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Die Tänzerin im Schnee - Roman

Die Tänzerin im Schnee - Roman

Titel: Die Tänzerin im Schnee - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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probieren. Dieses herrliche Gleichgewichtsgefühl, kleine Schritte gehen zu können, ohne umzukippen. Den ganzen Nachmittag lang stellten sie und Vera sich auf die Fußspitzen – bis Veras Großmutter sie anschrie, weil sie ihre Schuhe ruinierten. Inzwischen war Mutter von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte, statt zu schimpfen, von ihrer Idee erzählt.
    Als Nina den anderen Mädchen in der Schule berichtete, dass sie vielleicht auf eine Schule für Ballerinas gehen würde, schien keine von ihnen neidisch zu sein. Sie wussten nicht, was Ballett war, und Nina wusste nicht recht, wie sie ihnen beschreiben sollte, was sie in dem Tanzpavillon gesehen hatte. Manchmal, wenn sie nachts in ihrem Bett liegt und versucht, dieses Gefühl von Angst nicht an sich heranzulassen – diese dunkle Kälte, die nachts durch das Gebäude fegt, Schatten auf die Gesichter der Erwachsenen legt und mit jeder Stunde kälter und dunkler wird –, dann ruft sie sich die Ballerinas auf der Bühne im Park ins Gedächtnis, ihre hauchfeinen, sich wie Wasser kräuselnden Röcke, und stellt sich vor, wie ihre eigenen Haare, zu einer kleinen Krone geflochten, auf ihrem Kopf sitzen und die Bänder von Spitzenschuhen um ihre Knöchel gebunden sind.
    Nun werden sie und Vera zusammen mit einer ganzen Schar anderer Mädchen in einen großen Raum geführt, dessen Holzboden zu einer Wand hin abfällt, an der große gerahmte Spiegel hängen. Zuvor ist an ihre Kleider je ein Zettel mit einer Nummer geheftet worden. Hinter einem glänzenden Klavier sitzt eine Frau mit hoch aufgetürmten Haaren, die ihnen erklärt, dass sich jede von ihnen so durch den Raum bewegen soll, wie es ihrem Gefühl nach zur Musik passt. Sie beginnt zu spielen, eine liebliche, recht langsame Melodie; die Klaviertöne plätschern wie Regentropfen, und ein Mädchen nach dem anderen macht sich auf den Weg über die Tanzfläche. Dann ist Vera an der Reihe, doch sie verharrt vollkommen regungslos, macht nur großeAugen, und Nina, die hinter ihr wartet, macht sich Sorgen – dass sie und Vera zum ersten Mal in ihrem Leben etwas nicht zusammen tun könnten. »Komm schon.« Nina packt Vera bei der Hand, und die beiden tanzen zusammen, bis Nina spürt, wie sich Veras Finger entspannen; als Nina loslässt, tanzt Vera voraus, leicht und unbeschwert. Nina reiht sich wieder hinter ihr ein, und jedes Mal, wenn die Musik sich ändert (denn sie ändert sich, sowohl ihre Stimmung als auch ihr Tempo), spürt sie, wie sie zu einem anderen Wesen wird.
    Die Luft duftet nach Flieder, als sie anschließend wieder nach draußen treten. Warme Sonnenstrahlen durchdringen den Baumwollstoff ihrer Kleider. Ein Straßenverkäufer reicht ihnen Eistüten. Einen Moment lang scheint sich auch Vera über die Tanzprüfung zu freuen, sich wie Nina darüber bewusst zu sein, dass sie ihre Sache letzten Endes gut gemacht hat. Doch dann ist sie sonderbar still, und Mutter ist mit den Gedanken ganz woanders. Nina spürt, wie sie sich wieder an sie heranschleicht, diese dunkle Kälte – das genaue Gegenteil der Leichtigkeit, die sie umgibt, der sonnigen Freiheit des Monats Juni, in dem die Menschen ohne Mantel und Hut aus dem Haus gehen. Sie versucht, das Gefühl abzuschütteln, denkt an die Ballettschule, an den Mann, der am Ende zu ihr gekommen war, um ihre Beine hierhin und dorthin zu ziehen, ihre Fußsohlen begutachtete, sie ihre Zehen strecken und einziehen ließ und mit dem, was er sah, zufrieden war. Auch Vera wurde, im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen, wohlwollend von Kopf bis Fuß gemustert.
    Als sie am Grandhotel an der Ecke vorbeikommen, ist das Straßencafé geöffnet, zum ersten Mal seit dem langen Winter. »Schaut mal da!«, sagt Vera und bleibt stehen. Eine Frau verlässt gerade das Hotel, durch eine Drehtür – die einzige in der Stadt –, die von zwei mürrisch dreinblickenden Männern in langen Jacken angeschoben wird.
    Die Frau sieht vollkommen anders aus als alle Frauen, die Nina je gesehen hat, bekleidet mit einem blassgraublauen Hosenanzug, einem schräg auf dem Kopf sitzenden kleinen Hut und kurzen, sauberen weißen Handschuhen. Handschuhe im Frühling! Und dieser zarte graublaue Farbton … Nina kennt nur wenige Stoffe: die immergleichen dunklen Pflaumentöne im Winter und die hübsch-hässlichen Muster im Sommer, nichts dazwischen.
    Und dann entdeckt Nina etwas ganz und gar Verblüffendes: Die Frau hat Edelsteine in den Ohren! Winzig kleine, aber prachtvoll funkelnde Diamanten. Nina

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