Die Taeuschung
Das Meer, das so grau gewesen war, zeigte von hier oben einen
türkisfarbenen Schimmer, der irgendwo in seiner Tiefe geboren
zu werden schien, aber in Wahrheit mit irgendeiner raffinierten
Spiegelung zusammenhängen mußte. Carla trat nahe an den
Abgrund heran, schauderte vor der Tiefe, in die sie blickte.
»Das ist ... ganz schön hoch hier«, sagte sie beklommen.
»Zweihundertfünfzig bis dreihundert Meter«, sagte Rudi.
»Hier hinunterzuspringen bedeutet den absolut sicheren Tod.
Irgendwo hier muß eine Stelle sein, von der sich immer wieder
Liebespaare hinunterstürzen, wenn ihnen aus irgendeinem
Grund ihre Situation ausweglos erscheint. Manche verewigen
zuvor noch ihre Namen auf einem Stein.«
Carla fröstelte erneut; wegen des Windes, der hier oben
wehte, und auch wegen des Blicks in die Tiefe und des
Gedankens, verzweifelt genug zu sein, um in dieses unendliche
Entsetzen zu springen.
Ihr kam ein Gedanke, und schon während sie ihn aussprach,
wußte sie, daß es ein Fehler war, diese Frage gerade jetzt zu
stellen, daß sie den schwelenden Streit zwischen ihnen erneut
würde auflodern lassen.
»Stell dir vor, unsere Liebe wäre aussichtslos gewesen.
Wärst du mit mir gesprungen?«
Die Frage war völlig hypothetisch, und ihre Beantwortung
hätte nur dazu dienen sollen, den Frieden wiederherzustellen.
Hätte Rudi Carla an sich gezogen und ihr erklärt, daß ohne sie
sein Leben nichts wert gewesen wäre, hätte der verkorkste Tag
in seiner zweiten Hälfte harmonisch verlaufen können.
Aber Rudi sah Carla kühl an und erwiderte: »Warum hätte
ich das tun sollen? Es gibt so viele andere Frauen auf der Welt,
und mit den meisten wäre ich sicher besser ausgekommen. «
Und damit hatte er die Situation zum Eskalieren gebracht.
Carla hatte die Straße überquert und rannte in Richtung
Landesinneres. Sandige Wege liefen kreuz und quer zwischen
flachen Nadelgehölzen, Hügel hinauf und hinunter, durch Täler
und über Anhöhen. Feiner Regen schlug ihr ins Gesicht, aber
die Kälte des Windes spürte sie nicht, so warm war ihr
inzwischen geworden. Sie rannte vor Rudis hellen, kalten
Augen davon, vor dem Gefühl, lieblos behandelt worden zu
sein, und vor dem Eindruck, einen Fehler gemacht zu haben,
als sie ihn geheiratet hatte.
Zunächst hatte sie gehofft, er werde ihr folgen. Sie hatte ihn
fassungslos angestarrt und war dann losgestürzt, und er hatte
gerufen: »He, spinnst du? Was ist los? Bleib gefälligst stehen!«
Aber er war ihr nicht gefolgt, und kurz fragte sie sich, ob er
am Parkplatz warten oder einfach wegfahren würde; wie sollte
sie dann ins Hotel zurückkommen, oder war ihm das egal?
Ziemlich schnell bekam sie Seitenstechen, und ihre Lungen
fingen an zu schmerzen, aber sie hatte schon lange gewußt, daß
es mit ihrer Kondition nicht weit her war. Sie war dem
Labyrinth aus kleinen Wegen und Trampelpfaden gefolgt, ohne
auf die Richtung zu achten, und als sie sich jetzt einmal um
sich selbst drehte, stellte sie fest, daß sie keine Ahnung hatte,
wo sie sich befand. Die Straße war hinter all den Hügeln längst
ihrer Sicht entschwunden. Nebel wogte um sie herum. Ihre
Augen brannten. Auf gut Glück stapfte sie los, in eine
Richtung, von der sie nicht wußte, wohin sie führte. Sie würde
jeden Moment anfangen zu weinen. Rudi, der Scheißkerl. Ihre
Mutter hatte ihn vom ersten Moment an nicht gemocht.
Rudi saß im Auto, rauchte eine Zigarette und dachte, daß
Weiber wirklich das allerletzte waren. Und speziell Carla war
die dümmste Kuh, die er je getroffen hatte. Nervte ihn tagelang
wegen des Wetters, für das er schließlich auch nichts konnte,
lamentierte, quengelte und stellte ihm schließlich vorn am
Felsen der Liebespaare eine so hirnverbrannte Frage, daß man
sie anders als verärgert und ironisch gar nicht beantworten
konnte. Ob er da hinuntergesprungen wäre, wenn ... Er haßte
diese hypothetischen Fragen, mit denen Frauen immer nur
irgendwelche Tests durchführen wollten. Ob man sie genug
liebte, begehrte, verehrte und was nicht noch alles. Carla war
Weltmeisterin darin. Mußte sich ewig vergewissern, daß sie die
Hauptrolle in all seinen Gedanken spielte. Guter Gott, wie
anstrengend er das oft fand! Meist antwortete er, was sie hören
wollte, war ja keine Intelligenzleistung, das zu wissen, und er
hatte dann am schnellsten seine Ruhe. Aber heute hatte er es
nicht fertig gebracht, heute hatte sie ihn zu sehr genervt. Heute
hatte er ihr weh tun
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