Die Taeuschung
wollen, und schließlich mußte es ihm auch
erlaubt sein, sich hin und wieder abzureagieren. Und natürlich
bekam sie schwimmende Augen und raste davon, und sicher
erwartete sie, daß er hinterhergaloppierte, aber da hatte sie sich
getäuscht. Ein, zwei Minuten lang hatte er sogar überlegt,
zurück ins Hotel zu fahren und sie den Weg zu Fuß gehen zu
lassen, aber das hätte bedeutet, sie wäre noch am Abend
unterwegs gewesen, und am Ende wäre sie noch auf die Idee
gekommen, Anhalter zu spielen, und man wußte ja, was dabei
alles passieren konnte. Scheiße, er hatte die Frau geheiratet. Er
war jetzt irgendwie auch verantwortlich.
Er kurbelte die Fensterscheibe hinunter und schnippte seine
Zigarette hinaus. Mißmutig starrte er über das Meer. Carla
würde sich doch nicht verlaufen haben? Aber so blöd konnte
eigentlich nicht einmal sie sein. Wahrscheinlich blieb sie aus
reinem Trotz so lange weg. Da es ständig nieselte, mußte sie
inzwischen völlig durchnäßt sein.
Dumme Pute, dachte er und fragte sich, weshalb er sich zu
dieser Heirat hatte überreden lassen.
Und da sah er sie im Rückspiegel.
Sie überquerte gerade die Straße und betrat den Parkplatz.
Irgend etwas an ihr kam ihm eigenartig vor. Die Haare klebten
an ihrem Kopf, aber das kam vom Regen. Ihr Gesicht schien
ihm verzerrt, aber das mochte von der Anstrengung herrühren;
sie war ein ganzes Stück gerannt und hatte nicht das geringste
Training. Wie peinlich für sie, dachte er genüßlich, sie hat
gemeint, ich jage hinter ihr her, und nun muß sie von allein
zurückkommen. Mal sehen, wie sie das jetzt zurechtlabert!
Er lehnte sich zurück, behielt sie aber durch den Rückspiegel
im Auge. Sie taumelte, hielt sich offenbar kaum noch auf den
Beinen. Himmel, er hatte nicht gewußt, daß sie eine so
schlechte Kondition hatte! Sie kam auf das Auto zugestolpert,
als wolle sie jeden Moment zusammenbrechen. Sie war jetzt
nah genug, daß er ihr Gesicht deutlicher erkennen konnte, und
er sah, daß er sich nicht getäuscht hatte. Ihre Züge waren
verzerrt, viel verzerrter, als es zuerst den Anschein gehabt
hatte, und jetzt begriff er auch, was ihm so eigenartig
vorgekommen war: Sie sah nicht einfach nur angestrengt aus.
Ihr Gesicht war in Entsetzen und Panik verzerrt, ihre Augen
vor Grauen geweitet.
Wie ein Mensch, der dem Tod ins Gesicht gesehen hat,
schoß es ihm durch den Kopf, und obwohl er ihr auf keinen
Fall hatte entgegengehen wollen, verließ er nun rasch sein Auto
und trat auf sie zu.
Sie brach buchstäblich in seinen Armen zusammen. Sie
stammelte etwas, aber er konnte zunächst nicht verstehen, was
sie sagen wollte. Er schüttelte sie sanft.
»Beruhige dich! Was ist denn geschehen? Hör mal, dir kann
nichts passieren!«
Endlich brachte sie halbwegs zusammenhängende Silben
heraus.
»Ein Mann ...«, krächzte sie, und er bekam einen
Heidenschreck: Sie war einem Triebtäter begegnet, irgendwo
dort im Nebel, und ...
»Er ist tot! Rudi, er ... liegt da hinten zwischen den Hügeln.
Er ist ... voller Blut ... ich glaube, jemand hat ihn erstochen ...«
2
Sie fühlte sich schwer und müde und so, als tue sie etwas, was
sie gar nicht tun wollte. Sie befolgte Annes Ratschläge, weil ihr
in irgendeinem Winkel ihres Gehirns klar war, daß Anne recht
hatte, aber in ihr selbst herrschte eine fast lähmende
Gleichgültigkeit. Sie war so erschöpft, daß sie im Grunde kein
anderes Bedürfnis spürte als das nach Ruhe. Sie wollte sich
hinlegen und schlafen und über nichts mehr nachdenken
müssen.
Es regnete seit den frühen Morgenstunden. Sie hatte
versucht, Christopher zu erreichen, aber er war nicht daheim
gewesen, und so würde sie es am Nachmittag noch einmal
probieren. Gegen halb zwölf war sie zum Chez Nadine gefahren, wo sich noch kein weiterer Gast aufhielt. Nadine
lehnte an der Theke und trank einen Tee; sie war nachlässig
gekleidet und ungeschminkt. Laura kam es vor, als sei sie um
Jahre gealtert seit dem Sommer, als sie sie zuletzt gesehen
hatte. Frustration und Verbitterung zeichneten immer tiefere
Linien in ihr Gesicht. Zum erstenmal konnte Laura ihr
tatsächlich ansehen, wie sehr sie ihr Leben haßte.
Laura hatte lange Zeit nicht gewußt, daß Nadine unglücklich
war. Irgendwie hatte sie stets geglaubt, sie und Henri seien das
ideale Paar, das im Chez Nadine den gemeinsamen
Lebensinhalt gefunden hatte. Sie erinnerte sich, daß sie im
Sommer vor zwei Jahren zum erstenmal mit den Tatsachen
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