Die Taeuschung
Beunruhigung.
Pauline war achtundzwanzig Jahre alt. Als sie zwanzig
geworden war, hatten ihre Eltern die Provence verlassen, waren
in den Norden Frankreichs gezogen und hatten ihr das hübsche
Häuschen mit Garten in La Cadiére, in dem sie aufgewachsen
war, übereignet. Sie hatte allein dort gelebt und die Stelle bei Berard angenommen, und das langweilige, einsame Dasein,
das sie führte, hätte andere junge Frauen in eine Sinnkrise
gestürzt, war von ihr jedoch mit dem dumpfen Gleichmut
hingenommen worden, mit dem sie ihrem Leben grundsätzlich
begegnete.
Vor anderthalb Jahren hatte sie Stephane Matthieu getroffen.
Obwohl Stephane, wie sich später herausstellte, seit langem
regelmäßig Bekanntschaftsanzeigen aufgab und sich mit
heiratswilligen Frauen traf, ohne je einen bleibenden Erfolg
erlangt zu haben, lernten sie beide sich lustigerweise nicht auf
diesem Weg, sondern durch einen reinen Zufall kennen: Beim
Rangieren auf dem Parkplatz am Strand von Les Lecques stieß
ein fremdes Auto mit dem von Pauline zusammen; den Fahrer
traf eindeutig die Schuld, was jedoch von ihm bestritten wurde.
Stephane, der in der Nähe gestanden und den Vorfall
beobachtet hatte, mischte sich ein und bot sich Pauline als
Zeuge an.
Sie heirateten schon bald darauf, mehr auf Stephanes
Betreiben hin als auf das von Pauline. Stephane wollte endlich
in einen sicheren Hafen einlaufen, und Pauline hatte nichts
dagegen. Sie wußte, daß sie in ihm nicht gerade einen
Traummann gefunden hatte, aber einen Besseren würde sie
nicht bekommen, auch da machte sie sich keinerlei Illusionen,
und womöglich würde überhaupt nie ein anderer kommen. Zu
zweit war das Leben besser als allein.
Tatsächlich gelang es ihnen, auf eine friedliche, langweilige
Art miteinander zurechtzukommen. Stephane war den ganzen
Tag in seiner Bankfiliale in St. Cyr, und sie ging zu Berard oder kümmerte sich um Haus und Garten. Nie hätte sie
gedacht, daß sich einmal etwas am gleichmäßigen, ruhigen
Ablauf aller Tage ändern könnte. Wie es nun geschehen war.
Und ständig wieder geschah.
Richtig nervös wurde sie an diesem Freitag, dem 12.
Oktober. Ein herrlicher, strahlender, sonniger Tag, aber für sie
voll düsterer Bedrückung. Sie hatte in der gestrigen Zeitung
vom grausamen Mord an einem deutschen Touristen gelesen,
aber das Verbrechen hatte sie nicht besonders interessiert. In
der heutigen Zeitung wurde das Thema noch einmal
aufgegriffen. Offensichtlich gab es ein paar erste Vermutungen
der ermittelnden Polizei. Demnach wies der Fall Parallelen
zum Mord an der jungen Pariserin und ihrer Tochter in deren
Ferienhaus auf, wobei es allerdings keine erkennbare
Verbindung zwischen den Opfern gab. Alle drei waren sie mit
kurzen Stricken erdrosselt worden, wobei die Stricke offenbar
jeweils von der gleichen Art und Struktur waren. Der Mann in
den Bergen allerdings war zudem mit einem Messer heftig
traktiert worden.
Hat ein Serienmörder die Kette seiner schaurigen Taten
begonnen? fragte die Überschrift.
Pauline fühlte sich höchst unbehaglich. Was, wenn es der
Killer war, der hinter ihr herschlich? Sie wußte nicht, weshalb
er sie als Opfer hätte aussuchen sollen, aber bislang war
ohnehin kein System erkennbar; der deutsche Tourist und die
Pariser Witwe hatten nichts gemeinsam, wenn es da nicht eine
völlig verborgene Geschichte im Hintergrund gab. Doch was
sie selbst, Pauline, betraf, so wußte sie ganz genau, daß sie
beide Menschen nicht kannte und niemals etwas mit ihnen zu
tun gehabt hatte. Was wußte man, welches Auslösers es
bedurfte, einen Psychopathen auf sich aufmerksam zu machen?
Die Art zu lachen, zu sprechen, sich zu bewegen? Sie hatte
keine Ahnung. Aber durch irgend etwas war sie ihm
womöglich aufgefallen.
Sie saß an diesem Freitagmorgen vor der aufgeschlagenen
Zeitung am Eßtisch und fühlte sich immer hilfloser. Stephane
hatte sich bereits verabschiedet, sie an der Haustür noch einmal
kritisch gemustert und gesagt, sie sehe schlecht aus. Sie hatte
ihm von ihrer Besorgnis nichts erzählt, weil sie wußte, daß er
sie ausgelacht hätte. Aus demselben Grund mochte sie auch
nicht bei der Polizei anrufen. Die Bevölkerung wurde um
Hinweise gebeten, und wahrscheinlich riefen wenigstens zwei
Dutzend Omas an, die Geräusche im Keller oder ein Rascheln
unter ihren Betten gehört hatten. Allzu gern mochte sie sich da
nicht einreihen.
Andererseits, vielleicht schwebte sie wirklich in Gefahr.
Sie
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