Die Taeuschung
Grund dafür sein, daß sie sich fast nie vor
irgend etwas fürchtete. Schon als Kind hatte sie keine Angst
gekannt vor Gespenstern oder vor Monstern, die sich unter dem
Bett versteckten, weil sie nie auf die Idee gekommen wäre, sich
derart abwegige Dinge überhaupt vorzustellen. Auch später
änderte sich das nicht. Andere Mädchen hatten Angst, durch
Prüfungen zu fallen, Pickel zu bekommen oder keinen Mann zu
finden, aber wer Pauline auf solch bedrohliche Möglichkeiten
ansprach, erntete erstaunte Blicke. »Wieso? Wie kommt ihr
denn darauf?«
Sie war so farblos, daß sie ständig übersehen wurde, und
insofern mochte es eine Berechtigung geben für ihre
Sicherheit, mit der sie Gefahren, Krankheiten und sonstige
Schicksalsschläge für sich überhaupt nicht in Betracht zog: Es
war tatsächlich anzunehmen, daß sämtliche noch so böse
gesonnene Götter ebenfalls an ihr vorübergehen würden, ohne
sie wahrzunehmen.
Daher war es völlig ungewohnt und irritierend für sie, daß
sie sich seit einiger Zeit eines unbehaglichen Gefühls nicht
erwehren konnte.
Als noch beunruhigender empfand sie den Umstand, daß sie
gar nicht genau sagen konnte, worin das Gefühl bestand, oder
vielmehr: Es wäre ihr absolut lächerlich vorgekommen, wenn
sie irgend jemandem gegenüber ihre Beklemmungen erwähnt
und den Grund dafür genannt hätte.
Seit etwa vier Wochen meinte sie, beobachtet zu werden.
Es war nicht so, daß sie ständig jemanden hinter sich
vermutet hätte. Aber es hatte ein paar eigenartige Momente
gegeben, die ihr in dieser plötzlichen Häufung sonderbar
vorkamen.
Einmal hatte sie den Eindruck gehabt, daß ein Auto ihr
folgte. Sie war in ihrem kleinen Renault über die Landstraßen
gefahren, und der dunkelblaue Wagen hinter ihr – sie kannte
sich mit Automarken nicht gut aus, vermutete nur, daß es sich
um einen Japaner handelte – war im stets gleichen Abstand
hinter ihr geblieben, war langsamer geworden, wenn sie
langsamer wurde, und schneller, wenn sie ihr Tempo steigerte.
Sie hatte ein paar Tests gemacht, war urplötzlich und ohne
vorher zu blinken in holprige Feldwege abgebogen, hatte
abrupte Wendemanöver vollführt oder minutenlang am
Straßenrand angehalten. Ihr Verfolger machte jede ihrer
sprunghaften Aktionen mit. Erst als sie den Berg zum alten La
Cadiére hinauf – wo sie wohnte – in Angriff nahm, bog er ab in
Richtung Autobahn und brauste davon.
Ein anderes Mal hatte sie abends bei offenem Fenster in
ihrem Wohnzimmer gesessen und ferngesehen, als sie meinte,
plötzlich einen Schatten jenseits der Gardinen zu bemerken.
Sie war allein daheim gewesen, denn Stephane, ihr Mann, hatte
seinen allwöchentlichen Stammtisch gehabt. Sie war sofort auf
die Terrasse gelaufen, aber da war niemand mehr gewesen;
doch sie war überzeugt, daß das Gartentor geklappert hatte.
Zum dritten Erlebnis war es während ihrer Arbeitszeit
gekommen. Seit einiger Zeit arbeitete Pauline stundenweise als
Zimmermädchen im Hotel Berard, und an jenem Tag hatte sie
Dienst im alten Teil des Hauses, dem ehemaligen
Klostergebäude, gehabt. Sie war ganz allein im Gang gewesen,
beschäftigt mit dem Wagen, auf dem sich frische Bettwäsche
und Handtücher stapelten. Sie hatte auf einmal den starken
Luftzug verspürt, der entstand, wenn jemand vorn die schwere
Pforte öffnete. Irgendwo in ihrem Unterbewußtsein wartete sie
auf die Schritte von sich nähernden Gästen oder auf das
Knarren der Treppe, falls jemand nach oben ging.
Aber alles blieb still, und in dieser Stille lag plötzlich etwas
Atemloses, Lauerndes. Pauline richtete sich auf und sah sich
um. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Die Stille war zu still. Sie hätte schwören können, daß irgendwo in dem
verwinkelten Gang hinter ihr jemand war, ohne daß sie eine
sachliche Begründung hätte anführen können.
»Hallo?« fragte sie. »Ist da jemand?«
Sie kam sich lächerlich vor, und zugleich hatte sie sich noch
nie vorher so geängstigt. Beides – das Gefühl der
Lächerlichkeit wie die Angst – war so fremd, daß es sie
fassungslos machte.
»Hallo?« rief sie noch einmal.
Unmittelbar darauf spürte sie erneut den Luftzug. Der
Unbekannte hatte das Kloster offenbar wieder verlassen.
Vielleicht jemand, der sich geirrt hatte, der etwas suchte, der
neugierig einmal ins Innere des alten Gebäudes hatte blicken
wollen. Es gab tausend harmlose Erklärungen. Um so
rätselhafter erschienen ihr ihre Angst und
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