Die Taeuschung
würde nicht anrufen. Sie würde abwarten. Das Wort
Serienmörder tanzte vor ihren Augen. Oder sollte sie doch
anrufen ...?
2
Laura lag an diesem Freitag noch bis zum Mittag im Bett. Sie
hatte sich am Vortag sofort nach dem Anruf ihrer Mutter mit
der Polizei in Verbindung gesetzt. Eine Beamtin hatte sie
daraufhin abgeholt. Sie war wie in Trance gewesen, als sie
neben ihr durch die langen Gänge des gerichtsmedizinischen
Instituts von Toulon gelaufen war. Sie hatte wie aus der Ferne
das Klappern ihrer Absätze auf den Steinfliesen vernommen
und die Beamtin reden hören; erst heute kam ihr zu
Bewußtsein, daß diese, offenbar mit Rücksicht auf sie als
Ausländerin, in einem gebrochenen Französisch gesprochen
hatte, in einer Art, wie man sonst mit kleinen Kindern oder
sehr alten Leuten sprach. Sie hatte kaum eine Ahnung, was die
Frau eigentlich gesagt hatte, aber das mochte auch an ihrem
Gefühl der Entrücktheit liegen. Immer noch hatte sie ihre
Kleidung und Wäsche nicht gewechselt, immer noch nicht sich
die Haare gekämmt. Trotz der Dusche im Hotel am frühen
Morgen hatte sie den Eindruck, daß sie schlecht roch und mit
ihrer zerwühlten Mähne und dem bleichen Gesicht geradezu
abstoßend aussah. Eine Weile fragte sie sich sogar, woher der
schlechte Geschmack in ihrem Mund rührte, bis ihr einfiel, daß
sie sich nach der letzten Übelkeitsattacke nicht einmal die
Zähne geputzt hatte, Gleich darauf wunderte sie sich, weshalb
sie über derlei Dinge überhaupt nachdachte.
Am Rande bekam sie mit – und begriff den Sinn der
Aussage auch erst viel später –, daß jemand ihr erklärte, man
habe den Toten so hergerichtet, daß sie vor dem Anblick keine
Furcht haben müsse.
Sie identifizierte Peter, ohne zu zögern. Er sah friedlich aus,
von der Gewalteinwirkung, unter der er gestorben war, war
nichts zu bemerken. Vielleicht, dachte sie nachher, hätte sie bei
genauerem Hinsehen Spuren entdeckt. Den Körper bekam sie
nicht zu Gesicht. Peter war bis zum Kinn mit Tüchern
abgedeckt.
Es folgte ein langes Gespräch mit dem ermittelnden
Beamten. Seinen Namen hatte sie nicht verstanden, aber sie
erinnerte sich, ihn als sehr gütig empfunden zu haben. Ein
Dolmetscher stand zur Verfügung, wurde aber weggeschickt,
als der Beamte merkte, wie gut Laura französisch sprach. Sie
erzählte ihm die Geschichte in einer gefilterten Form.
Peter war zum alljährlichen Segeltörn mit Christopher
aufgebrochen, bei dem Freund jedoch nicht angekommen. Sein
letzter ihr bekannter Aufenthaltsort war das Chez Nadine gewesen, dort hatte er am Samstag zu Abend gegessen, wie sie
vom Wirt, Henri Joly, erfahren hatte. Sein Auto parkte noch
dort. Dann verlor sich seine Spur, sie hatte keine Ahnung, was
geschehen war. Sie war ihm nachgereist, weil es sie
beunruhigte, keinen telefonischen Kontakt zu ihm zu
bekommen. Zudem hatte sie am Sonntag nach Peters Abreise
gegen halb elf am Morgen Christopher angerufen und erfahren,
daß er dort nicht erschienen war.
Die logische Gegenfrage des Kommissars war, weshalb sich
denn Christopher nicht bei ihr gemeldet habe, es habe doch
auch ihm befremdlich vorkommen müssen, daß der Freund
nicht erschien. Spätestens an diesem Punkt hätte sie mit der
Geliebten, den Flugtickets und Christophers Wissen darum
herausrücken müssen. Warum brachte sie es nicht fertig? Es
war klar, daß der Kommissar auch mit Christopher, dessen
Namen und Adresse er sorgfältig notierte, sprechen würde.
Christopher würde von Nadine berichten. Keine Frage, daß
alles auffliegen würde, und dennoch konnte sie es in diesem
Moment nicht über sich bringen, selbst etwas davon zu
erwähnen. Sicher würde man nachher denken, es sei ihr
peinlich gewesen, als betrogene Ehefrau dazustehen. Die
Wahrheit, wie ihr bereits dämmerte, war komplizierter: Sie
hatte etwas mit dem wehrlosen Toten zu tun, den sie gerade
identifiziert hatte. Von seiner Untreue und Verlogenheit zu
berichten, wäre ihr wie ein Akt der üblen Nachrede
vorgekommen, begangen an einem Menschen, der keine
Möglichkeit mehr hatte, sich zu rechtfertigen.
Der Kommissar überlegte einen Moment, so als sei er noch
unschlüssig, wie weit er Laura in alle Einzelheiten des Falls
einweihen wollte, und sie ahnte, daß er instinktiv spürte, daß
sie nicht die ganze Wahrheit sagte, ohne selber genau zu
wissen, was an ihr ihm diese Vorstellung vermittelte.
»Wissen Sie, was wir einige Meter vom ... Leichenfundort
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