Die Taeuschung
Ich schließe es zu
neunundneunzig Prozent aus, daß wir hier einen Menschen
haben, der sich seine Opfer wahllos aussucht, sozusagen
nimmt, was gerade kommt. Das bedeutet, es muß irgendeine
Verbindung zwischen Ihrem Mann und Madame Raymond
geben. Entweder, die beiden passen, ohne einander zu kennen,
in ein gemeinsames Raster, das sich für uns im Moment
allerdings überhaupt nicht abzeichnet, oder sie kannten
einander eben doch. Näher – oder sehr nah.«
Obwohl ihr Verstand so langsam arbeitete, wußte sie, was er
sagen wollte, und ihr leerer, hungriger Magen zog sich mit
einem schmerzhaften Stechen zusammen. Ihr erstes
instinktives Gefühl war, daß sie ihn so rasch wie möglich von
dieser Fährte ablenken mußte.
»Es kann doch auch um eine Nachahmung gehen. Jemand,
der von dem ersten Verbrechen gehört oder gelesen hat. Und
der dachte, wenn er seine Tat auf die gleiche Weise verübt,
glaubt die Polizei an einen Serientäter, und auf ihn fällt kein
Verdacht.«
Sie war selbst erstaunt, ihre eigene Stimme zu hören. Vor
einigen Stunden hatte sie erfahren, daß ihr Mann ermordet
worden war. Vor einer knappen Stunde hatte sie seine Leiche
identifiziert. Warum weinte sie nicht, hatte keinen
Nervenzusammenbruch, brauchte keine Beruhigungsspritze?
Sie saß im Zimmer eines Kommissars und diskutierte
Tätertheorien mit ihm. Und fühlte sich dabei wie
fremdgesteuert, so als sei sie nicht wirklich bei sich, aber als
flüstere ihr eine innere Stimme unerbittlich zu, daß sie
funktionieren müsse, daß sie aufpassen müsse und nichts falsch
machen dürfe.
Sie konnte sehen, daß auch der Kommissar ihr Verhalten
eigenartig fand.
»Natürlich gibt es das Phänomen des Nachahmungstäters«,
sagte er, »aber diese Theorie würde natürlich dann hinfällig,
wenn sich herausstellte, daß es sich wirklich um ein und
dasselbe Tatwerkzeug handelt, nicht wahr? Und zum anderen:
Unter diesen Umständen müßte der sogenannte
Nachahmungstäter nun wirklich einen Grund gehabt haben,
ganz gezielt gegen Ihren Mann vorzugehen. Raubmord, wie
gesagt, scheidet aus. Könnte Ihr Mann Feinde gehabt haben?«
Sie fror. Nein, sagte sie, ihr sei nichts bekannt.
Der Kommissar nahm seinen ursprünglichen Gedanken
wieder auf. »Diese Madame Raymond ... das andere Opfer ...«,
sagte er vorsichtig, »könnten Sie sich vorstellen, daß Ihr Mann
sie kannte, ohne daß Sie davon wußten? Ohne daß Sie davon
wissen durften!« Er sah ihr nun sehr direkt in die Augen. Ihm
würde kein Zucken in ihrem Gesicht entgehen.
»Könnte es sein, daß Ihr Mann ein Verhältnis mit Madame
Raymond hatte?«
Das Schlimme war, daß es sein konnte. So rundweg sie diese
Vorstellung von sich gewiesen hatte, so genau wußte sie, daß
der Gedanke des Kommissars absolut nicht weit hergeholt war.
Peter hatte sie jahrelang mit Nadine Joly betrogen. Wer sagte
ihr, daß er sie nicht mit einem halben Dutzend Frauen mehr
hintergangen hatte? Vielleicht war Nadine Täterin und zugleich
auch Opfer, weil sie geglaubt hatte, die einzige zu sein, und es
nie gewesen war.
Ein Polizist hatte sie nach Hause gefahren, nachdem der
Kommissar sie gebeten hatte, vorläufig in Frankreich zu
bleiben und sich erreichbar zu halten. Sie ahnte, daß er wie ein
Jagdhund auf ihrer Fährte bleiben würde. Er verfügte über
einen durch jahrelange Erfahrung verfeinerten Instinkt. Ihre
ausweichenden Antworten auf seine Fragen nach Peters
Liebesleben würde er nicht einfach stehen lassen.
Den ganzen verbleibenden Donnerstag hatte sie im Bett
verbracht, zusammengekrümmt wie ein Embryo, frierend aus
ihrem tiefsten Inneren heraus. Das Telefon hatte häufig
geklingelt, aber sie wollte niemanden sprechen, und sie fand,
daß sie das Recht auf einen Rückzug hatte. Sicher war ihre
Mutter schon am Verzweifeln, weil sie nichts von sich hören
ließ, aber für den Moment konnte sie nur an sich und ihre
Bedürfnisse denken.
Innerhalb kürzester Zeit war sie zuerst zur betrogenen
Ehefrau und gleich darauf zur Witwe geworden. Ihren Mann
hatte nicht ein Herzinfarkt niedergestreckt oder ein Autounfall
umgebracht, sondern irgendein Verrückter in die Berge
geschleppt und ihn dort erwürgt und mit einem Messer
verstümmelt. Ihr Leben, so schien es ihr, hatte jegliche
Normalität verloren. Von einer Idylle, die, wenn sie auch
offensichtlich eine Scheinidylle gewesen war, aber dennoch auf
Frieden, Gleichmaß und sehr bürgerlicher Beständigkeit beruht
hatte, war sie in
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