Die Tallinn-Verschwörung - Thriller
weitere Feldwege und kehrte erst auf die Autobahn zurück, als der Stau hinter ihnen lag. Jetzt konnte er wieder aufs Gas treten und musste ein paarmal von Lodovico an das Tempolimit erinnert werden. Graziella verlor jegliches Zeitgefühl und fürchtete schon, sie wäre tot und in einer besonderen Hölle, in der sie bis zum Jüngsten Tag gefesselt auf dem Rücksitz eines Autos durchgeschüttelt würde.
Irgendwann aber rollte der Wagen aus, und Gianni schaltete den Motor ab. »Endstation! Alles aussteigen!«
Das würde ich ja gerne, du Hurensohn!, schimpfte Graziella still vor sich hin. Da wurde die Tür aufgerissen. Zwei Hände packten sie und zogen sie aus dem Wagen. Als die Decke herabrutschte, stellte sie fest, dass es Lodovico war. Trotz der rauen Behandlung war sie froh, nicht wieder von Gianni befingert zu werden.
Der Archivar setzte sie auf einer alten Bank ab, die vor einem von mehreren windschiefen Schuppen stand, und sie hörte dicht vor sich Wellen ans Ufer schlagen. Eine einzige Lampe spendete trübes Licht, konnte den Platz aber ebenso wenig ausleuchten wie die schmale Mondsichel über dem Bergkamm.
Der Geruch nach Salz verriet Graziella, dass ihre Entführer sie an die Küste gebracht hatten, und sie fragte sich, was die Kerle hier suchten. Hatten sie vor, sie in einem der Schuppen zu verhören und dann im Meer zu versenken? Sie schauderte bei dem Gedanken an das, was Gianni mit ihr anstellen würde. Dann schalt sie sich eine Närrin. Don Batista hatte doch gesagt, dass sie in ein anderes Lager gebracht werden sollte. Wie hatte der Priester es genannt? Camp A?
Sie hatte Renzos Lager in den Abruzzen gesehen. Es war nicht besonders groß gewesen, hatte aber weitaus lebendiger gewirkt als diese Hütten. Also konnte dies nicht der Ort sein, an den sie geschafft werden sollte.
Noch während sie nachsann, ob sie in einem belebten Camp mehr Chancen zur Flucht bekommen würde als in dieser gottverlassenen Gegend, hörte sie das Geräusch eines Lastwagens, der sich den Schuppen näherte. Gianni eilte ihm entgegen und begrüßte den Fahrer höchst erfreut. Lodovico kam nun mit drei weiteren Männern aus einem der Schuppen heraus. Einer davon winkte dem Neuankömmling ebenfalls zu. Die beiden anderen blieben im Hintergrund und unterhielten sich leise auf Deutsch – eine Sprache, die Graziella zumindest rudimentär beherrschte.
Unterdessen trat Gianni neben den Lkw und öffnete die Tür. »Dachte schon, du würdest es nicht mehr schaffen, Bruno!«
»Bei Foggia hat es einen Unfall mit Vollsperrung der Autobahn gegeben. Deshalb musste ich ein Stück über die Dörfer fahren.« Das Italienisch des Mannes war zu schlecht, um seine Muttersprache sein zu können. Graziella hielt auch ihn zunächst für einen Deutschen, doch schwang in seiner Wortmelodie ein Ton mit, den sie auch bei Kardinal Winter bemerkt hatte. Also handelte es sich um einen Österreicher. Ihr Verdacht verstärkte sich, als sie im Schein einer Lampe, die Lodovicos Begleiter einschaltete, das Kennzeichen des Lastwagens erkennen konnte. Der Beschriftung des Wagens nach transportierte er Milchprodukte, doch was die Männer jetzt ausluden und neben einem Schuppen stapelten, waren keine Käseschachteln, sondern Kisten aus Holz. Diese schienen recht schwer zu sein, denn die Männer keuchten bald und wischten sich immer wieder den Schweiß von der Stirn.
»Das nächste Mal kommst du früher!«, tadelte Gianni den Österreicher.
Der zuckte mit den Schultern. »Wenn es geht, gern. Aber zaubern kann auch ich nicht. Wir können froh sein, dass alles so gut klappt. Wenn das mit der EU und dem Schengener Abkommen nicht wäre, hätte ich bei der Zollkontrolle Probleme mit meinem Käse.«
»Käse ist gut!« Gianni lachte wiehernd, öffnete eine der Kisten mit einer Brechstange und holte eine Pistole heraus. Damit fuchtelte er Graziella vor dem Gesicht herum, lud dann durch und setzte ihr die Mündung auf die Stirn.
»Und Schuss«, kicherte er und drückte ab.
Graziella zuckte zusammen, aber es ertönte nur ein Knacken.
»Die Spritze war nicht geladen. Aber beim nächsten Mal ist sie es vielleicht. Österreichische Qualitätsarbeit für die große nationale Revolution.«
»Idiot! Musst du ihr alles erzählen?« Lodovico versetzte Gianni einen Stoß, doch der winkte lachend ab.
»Ist doch egal. Wer weiß, vielleicht schwenkt sie sogar auf unsere Seite über. Ich tue mein Bestes dafür.«
Das wirst du nicht erleben, und wenn du schwarz wirst, dachte
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