Die Tarnkappe
tat er etwas, was er seit Ewigkeiten nicht mehr getan hatte, er improvisierte, spielte ein Stück, das es gar nicht gab, Vorform der Komposition, versuchte, den inneren Zustand des Wartens zu vertonen, lange, mit Synkopen verbundene, ganze Töne, ein leises Gleiten von einem Ton in den nächsten, nichts Hektisches, nichts Wildes, er spürte, wie sich die Langeweile in das Stück schlich, die Vertonung der Langeweile des Wartens, doch nach einiger Zeit mischten sich helle Fitzelchen hinein, er konnte nichts dafür, seine rechte Hand machte sich selbständig, spielte zappeliger, und Simon wusste, dass er damit seine eigene Unruhe wiedergab, die Gereiztheit, die jedem Warten innewohnt, die Hoffnung auf das Ende des Wartens. Worauf warte ich denn?, fragte er sich. Der kommt nicht wieder. Der hat mich mit dem Koffer hier sitzen lassen. Ich bin auf ihn reingefallen, das ist alles. Trotzdem lauschte Simon hin und wieder zur Tür, weil er das Geräusch eines Schlüssels hören wollte, aber das blieb aus. Er nahm seine Noten, schob sie zurück in den Schrank und wollte ihn schon schließen, als er ein Fotoalbum entdeckte, mit Bildern von sich und seiner Frau. Er zog es heraus, öffnete es und schaute Anna an, die seit drei Jahren nicht mehr lebte.
Simon war froh, dass er Gregor nichts von seiner Frau erzählt hatte. Was hätte er sagen sollen? Dass er sie vermisste? Natürlich. Simon hatte sie in seinem ersten Jahr bei Brönner & Co. kennengelernt, eine stille Person, vielleicht sogar ein bisschen schüchtern, aber gerade deswegen passte sie zu Simon. Es hatte keiner großen Kunst bedurft, Anna zu fragen, ob man vielleicht mal nach Dienstschluss was trinken gehen wolle. Sie trafen sich ein paar Mal, bis der Augenblick gekommen war, da man sich entweder in die Arme fällt oder die Hand reicht, um gute Freunde zu bleiben. Sie waren sich in die Arme gefallen und in den ersten Monaten über sich hinausgewachsen, hatten für ihre Verhältnisse viele wilde Tage verbracht, lange Nächte mit endlosen Gesprächen und großer Nähe, als wären sie nur noch ein Mensch und nicht mehr zwei. Es hatte aber nicht lange gedauert, bis sie vom Alltag und der Gewohnheit, die sie beide unausgesprochen gesucht hatten, eingefangen wurden und ein Leben führten, das viel mit Zärtlichkeit zu tun hatte, mit Geborgenheit, mit restlosem Vertrauen, sie wurden zu einer gegenseitigen Stütze, die jedem von ihnen mehr Halt verlieh. Simon und Anna heirateten zügig, richteten sich in ihrer Zweisamkeit ein wie in ihrer neuen Wohnung. Weil sie sich jeden Tag auch bei der Arbeit sahen, gewöhnten sie sich so sehr aneinander, dass ein Tag ohne den anderen nicht einfach auszuhalten war. Sie stritten fast nie. Wenn sie mal stritten, dann über Alltagsdinge. Als Simon Anna einmal bat, für den Abend zwei halbe Hähnchen mitzubringen, nickte Anna und stand am Abend mit einem ganzen Hähnchen in der Küche, und Simon sagte: »Was soll das werden?«
»Zwei halbe Hähnchen«, sagte Anna.
»Das ist ein ganzes Hähnchen!«
»Wo ist der Unterschied? Zwei halbe sind ein ganzes.«
»Der Unterschied ist der, dass wir keine Hähnchenschere haben!« Simon konnte sich über solche Gedankenlosigkeit manchmal maßlos aufrege n – kümmerliche Reste seiner alten Lebenswu t –, er stand in der Küche, riss die Schublade auf und rief: »Wie soll ich das Hähnchen schneiden, wenn wir keine Hähnchenschere haben, du weißt doch, dass wir keine Hähnchenschere haben, zur Hochzeit haben wir alles Mögliche bekommen, nur keine Hähnchenschere, und seit wir verheiratet sind, sage ich, wir müssten uns eine Hähnchenschere kaufen, aber nein, sagst du immer, wozu brauchen wir eine Hähnchenschere, und dann schleppst du ein ganzes Hähnchen an, obwohl du haargenau weißt, dass wir keine Hähnchenschere haben!« Simon säbelte mit dem Brotmesser, das er aus der Schublade genommen hatte, an dem Hähnchen herum, nur um Anna vorzuführen, dass man mit einem Brotmesser kein Hähnchen zerlegen kann, ohne es zu zerstümmeln, und in diesem Augenblick bereitete es ihm eine grimmige Freude, seiner Frau zu beweisen, was für ein gedankenloses Wesen sie manchmal sein konnte und dass diese Gedankenlosigkeit der einzige Zug an ihr war, den Simon hasste. Er zerhäckselte die ölige Haut und das flockige Fleisch, während er rief: »Du hättest doch ohne weiteres zwei halbe Hähnchen bestellen können, die hätten das Hähnchen schon am Stand durchgeknipst, jetzt haben wir den Salat, und den Salat
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