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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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einschlafen. Bei jedem Geräusch zuckte er zusammen. Aber irgendwann wusste er nicht mehr, ob es tatsächliche Geräusche waren oder eingebildete. Er fiel in losen Flatterschlaf. Am nächsten Morgen, als der Wecker klingelte, fühlte er sich wie ausgespuckt, zum ersten Mal seit langem warf er den Wecker wieder gegen die Wand, das beruhigte ihn ein wenig, dann sprang er hoch, sah im Wohnzimmer nach, im Flur, im Bad, doch von Gregor keine Spur. Simon wartete auch den Sonntag über. Er wartete beim Frühstück und während er die kostenlose Sonntagszeitung las: der einzige Tag der Woche, an dem er die Zeitung nicht faltete. Er las auch gar nicht richtig, sondern steckte seine Stirn in die aufgeschlagene Zeitung, wäre am liebsten in die Zeitung hineingekrochen, aber er beruhigte sich wieder. Solche Anwandlungen tiefer Traurigkeit kannte er und hatte sie gut im Griff. Sie kamen, wenn er sich tags zuvor an etwas erinnert hatte, an das er sich nicht hätte erinnern sollen, an Anna zum Beispiel, und sie dauerten, wenn man sich ihnen hingab, zwei bis drei Stunden, aber wenn man sich ihnen widersetzte, nur ein paar Minuten.
    Jetzt ging er ins Wohnzimmer. Da schnüffelte etwas in ihm. Es war das fette Schwein der Neugier. Das trieb ihn an und grunzte ihm zu, na mach schon, Simon, Gregor kommt ohnehin nicht wieder, es schubste ihn voran, Richtung Koffer. Simon nahm den Koffer und wog ihn in der Hand. Er war nicht schwer. »Versuch nicht, den Koffer aufzumachen!«, hatte Gregor gesagt. Aber wie jedes strikte Verbot wandelte sich auch dieses in einen Ansporn, es zu übertreten. Simon schüttelte den Koffer. Ein leichtes Rascheln. Er untersuchte das Schloss. Ein Nummernschloss. Vierstellig. Ohne zu überlegen, verschob Simon die Zahlen auf 1507. Der 15 . Juli. Der Tag ihrer Kindheit, an dem sich alles geändert hatte. Doch der Koffer ließ sich nicht öffnen. Die damalige Jahreszahl? 1978. Nichts. Auf gut Glück wählte Simon ein paar andere Ziffern aus, das war aberwitzig, die Kombinationsmöglichkeiten schier unendlich. Zuletzt hielt Simon das Schloss ans Ohr, während er an den goldenen Zahlenrädchen drehte, als sei er ein gewiefter Panzerknacker, der das Einrasten der Ziffern hören konnte, aber er hörte nichts, so behutsam er auch drehte. Simon stellte den Koffer auf den Tisch. Er könnte das Ding aufbrechen. Aber wenn Gregor doch noch zurückkäme? Den aufgebrochenen Koffer entdeckte? Ihn zur Rechenschaft zöge? Wenn aber Geld drin wäre? Viel Geld? Wenn er, Simon, sich das Geld unter den Nagel reißen und untertauchen könnte? Raus aus Deutschland? Nach Amerika? Für eine Weile gab sich Simon den wüstesten Träumen hin. Alle längst vergraben geglaubten Sehnsüchte schüttelten auf einmal den Staub ab und erhoben sich: eine Villa in Los Angeles, Haus am Meer, Simon würde sich einkaufen in eins der großen Studios, Paramount, Warner, Universal, er würde ihnen Geld bieten, einen Haufen Geld, nur um einen Film vertonen zu dürfen, einen einzigen Film, einmal nur wollte er der Welt zeigen, was er konnte, ihm würde etwas Grandioses gelingen, eine Filmmusik, die den Zuschauern Tränen in die Augen trieb, etwas noch nie Dagewesenes. Die Studios stünden danach Schlange bei ihm, er würde mit Aufträgen bombardiert werden, er könnte für die besten Regisseure komponieren, Ang Lee, Hal Ashby, Michael Mann, ein Western von Clint Eastwood, er würde Ennio Morricone vergessen machen, er würde Elmer Bernstein vergessen machen, er würde selbst Jerry Goldsmiths grandiose Musik zu Missouri vergessen machen, eine Musik, die durch ihre Abwesenheit glänzt, zu Beginn, wo man nur Bilder sieht, die schweigenden Wälder Missouris, von fehlender Musik umhüllt, eine Szenerie, die jeder andere Komponist zur Landschaftsuntermalung genutzt hätte, nicht aber Jerry Goldsmith, der wusste, wann die Musik die Klappe zu halten hatte. Ja, dachte Simon, dort, am Tisch, neben dem Koffer sitzend, er würde selbst Alan Silvestri vergessen machen und dessen kongeniale Musik zu Cast Away , die, in den Fußstapfen Goldsmiths, erst in dem Moment einsetzt, als der auf einem Floß treibende Tom Hanks zur winzigen Pazifikinsel zurückblickt, auf der er vier Jahre lang gehaust hat, eine Insel, die er wie eine Gefängniszelle hasste, die ihm aber jetzt, untermalt von der Musik, als sichere Zuflucht erscheint im Vergleich zur Ungewissheit des Meers. Ganz allein hat er auf der Insel gehaust. Sein einziger Freund: ein Volleyball der Firma Wilson, auf den er mit

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