Die Tarnkappe
Blut ein Gesicht gemalt hat, um wenigstens mit irgendjemandem reden zu können. Und erst als Tom Hanks nach einem wilden Sturm zu sich kommt, auf den Trümmern seines Floßes, und sieht, wie Wilson ins Meer gefallen ist, breitet Silvestris Musik ihre Pathosflügel aus, erst da gibt der Komponist den Zuschauern einen Anstoß, sich fallenzulassen, ins Gefühl der Trauer über den Verlust des geliebten Freunds, und wer hätte es je für möglich gehalten, dass ein Film mit Hilfe von Musik in der Lage sein könnte, im Zuschauer Tränen hervorzuzaubern, wenn ein Volleyball von der Strömung des Meers weggetrieben wird und ein Mensch sein Leben riskiert, um diesen Volleyball zurückzuholen, und, als es ihm nicht gelingt, Wilson ruft, immer wieder Wilson, herzzerreißend, Wilson, und wie viel Kohle die Firma Wilson wohl locker gemacht hat, damit der Volleyball ihren Namen trägt und nicht den Namen Reebok oder Nike. Simon war abgeschweift. Das Träumen überfiel ihn, wie die Trauer, nur noch selten.
Jetzt aber lag dort immer noch der Koffer auf dem Tisch, und Simon überlegte, ob er aus dem Werkzeugkasten einen Schraubenzieher holen sollte. Er wagte es nicht. Er dachte an Gregor. An dessen Warnung. An die merkwürdige Begegnung vom Vortag. Wie war der Kerl überhaupt hier reingekommen? Das abgebrochene Streichholz war kein Streichholz gewesen, sondern die Spitze eines Zahnstochers. Gregor musste mit dem Splitter die Klingel fixiert und sich verkrochen haben, auf die dunkle Treppe, die einen Stock weiter nach oben führte. Und während Simon im Bad nach der Pinzette gesucht hatte, war Gregor in die Wohnung geschlüpft, an der Badezimmertür vorbei. Ungefähr so hätte es gewesen sein können. Aber weshalb hatte Simon geklingelt? An seiner eigenen Haustür? Obwohl er ganz genau wusste, dass niemand drinnen sein konnte? Er versuchte sich an das Gefühl zu erinnern, dort, vor der eigenen, durch die Zugluft ins Schloss gefallenen Wohnungstür, ein Gemisch aus Trauer und Erwartung. Vielleicht hatte er gedacht, dass Anna ihm öffnen würde, Anna, die, obwohl schon drei Jahre tot, immer noch in dieser Wohnung lebte, wie ein nicht zu entfernender Geruch. Simon verfluchte sich für seine wirren Gedanken. Wieso muss es Sonntage geben, fragte er sich, an Sonntagen sitzt man haltlos herum und versucht, die ausgebrochene Zeit einzufangen. Irgendein Psychologe hat das Wort Sonntagsneurose erfunden. Nur an Sonntagen, dachte Simon, kommt man auf allerhand dumme Gedanken.
Er ging spazieren. Simon ging denselben Weg, den er immer mit Anna gegangen war. Nur kein Abweichen vom Gewohnten. Es kam ihm vor, als ginge Anna immer noch neben ihm, nur dass man sie nicht sehen konnte. Statt mit Anna ging er nun mit der Gewohnheit Hand in Hand. Das tat ihm gut. Immer noch bog er erst von der Hebbel- in die Kleiststraße ab. Immer noch ging er am Haus Numme r 44 vorbei. In der ersten Zeit nach Annas Tod hatte er um die Stelle, an der es geschehen war, einen Bogen gemacht, hatte den Bogen immer enger gefasst, bis er schließlich genau über die Stelle gestiegen war, an der Anna gelegen hatte und an der, wenn es in drei Jahren nie geregnet hätte, noch immer ein Blutfleck zu sehen gewesen wäre, denn Blut hält sich hartnäckig auf Bordsteinplatten, aber es hatte geregnet in diesen drei Jahren, und auch der letzte Rest Blut war weggespült worden, Simon hatte noch ab und zu hochgesehen, zum Dach des Hauses Numme r 44, von dem inzwischen nagelneue, rote Ziegel glänzten, doch auch das hatte er schließlich aufgegeben, dann hatte er, als er vorbeiging, daran gedacht, dass irgendwann einmal ein Ziegel herabgefallen war, aber seit einem Jahr war es ihm gelungen, auch den Gedanken daran zum Schweigen zu bringen, sodass er jetzt immer ohne jede Regung an der 44 vorbeiging und nur noch selten zusammenzuckte, wenn er zu Hause feststellte, dass er nicht an Anna gedacht hatte.
Simon kehrte heim. Er öffnete die Tür zu seiner Wohnung. Lauschte. Sah nach. Von Gregor keine Spur. Er ging ins Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf das Fotoalbum, das auf dem Klavier lag und das er am Vortag vergessen hatte, in den Schrank zurückzulegen. Er wischte sich über die Nase, als wäre die Nase der Sitz für Erinnerungen und als könnte man diese mit einem simplen Strich ausmerzen. Es war sieben Uhr. Simon nahm das Album, stieg auf den Stuhl, öffnete den Schrank, schob den Notenstapel beiseite, der noch vorne lag. Da blitzte ganz hinten im Schrank etwas auf. Das war merkwürdig. Er
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