Die Tarnkappe
gefilmt, den Kampf an den Schließfächern, die Flucht in die Toilette, man hat sein Gesicht auf Video, der Bahnhof wird überwacht, man wird herausfinden, wer der Mörder ist, von jetzt an Gejagter. Zu Hause trat er vor den Spiegel im Bad und riss die Kappe vom Kopf, schrie laut und lange und sackte auf die Knie. Ohne Kappe wucherte etwas in ihm: Gedanken, Gewissen, Traurigkeit, Freude, alles verschwamm, die Gefühle für sich und die Welt klumpten zusammen. Er ging ins Bad und verarztete seine Wunden. Nur noch ein paar Büschel Haare auf dem Kopf, magere Schilfinseln. In der Küche trank er etwas, fraß das Leben wieder in sich hinein, steckte sich das Atmen als Butterbrot zwischen die Zähne. Blickte auf seine Mörderhände, das war nicht möglich, das war etwas, was nicht hatte geschehen dürfen, nicht Simon Bloch, dem unauffälligsten Menschen, der jeden Morgen seine Zeitung zusammenfaltete und zur Arbeit fuhr, wie Millionen andere auch. Er kaute mechanisch. Was sollte er tun? Wo sollte er hin? Die Kappe war sein einziger Zufluchtsort. Ohne Kappe war er verloren. Mehr noch: Ohne Kappe wäre er längst überführt worden und säße hinter Gittern. Er hob sie auf und sah sie an. In ihrem Innern klebte ein Gemisch aus Blut und Haaren. Er entfernte alles vorsichtig und säuberte sie. Sanfte Rupf- und Putzbewegungen. Die Kappe schien zu schnurren wie eine Katze. Simon fiel in ein Loch der Müdigkeit, merkte, wie schwach er war, suchte noch einmal das Badezimmer auf und erleichterte sich, küsste die Kappe, setzte sie auf, er verschwand und mit ihm die Schmerzen, Simon legte sich aufs Bett, schloss die Augen und schlief sofort ein. Wieder raste der Schlaf wie ein Zug durch seinen Geist. Diesmal schickte die Kappe ihm einen Traum. Eigentlich war es nichts weiter als eine Stimme von irgendwoher, die langsam zu ihm sprach: Du musst dich vorsehen. Man weiß, was du getan hast. Man wird dich verfolgen. Du musst auf der Hut sein. Es gibt niemanden mehr, dem du trauen kannst. Du bist ganz allein von jetzt an. Denk an Pan Tau: die letzten Einstellungen des letzten Pan-Tau -Films. Die Menschen, die Pan Tau verfolgten und seine Melone an sich reißen wollten, diese Melone, die alles herbeizaubert, was man begehrt, und mit der man sich selbst in eine kleine Puppe verwandeln kann. Weißt du noch, wie du geweint hast? Als Pan Tau vor den Verfolgern flüchtete? Als ihm auf dem Flugplatz die Melone vom Kopf geweht wurde? Als die Menschen der Melone hinterherrannten? Als Pan Tau mitansehen musste, wie alles, was ihn zu diesem besonderen, sprachlosen Mann machte, von den Menschen gepackt und zerfetzt wurde? Willst du, dass dies mit deiner Kappe geschieht? Denk an Pan Taus Gelassenheit: Wie er sich, als alles vorbei war, zur Kamera drehte, lächelte, mit den Schultern zuckte, ein letztes Mal blinzelte, und aufrecht, stolz wie immer, mit dem vor seinen Beinen wirbelnden Schirm und in seiner Nadelstreifenhose den Flugplatz verließ? Könntest du das? Ohne Kappe? Nein. Wenn man dir die Kappe nimmt, wirst du zugrunde gehen.
Es klingelte. Simon wachte auf, er hatte Klamotten und Schuhe noch an, war vorbereitet auf das, was geschehen würde. Hörte Schläge an der Tür, Tritte, uniformierte Männer brachen sich den Weg zu ihm hinein, mit vorgehaltener Pistole, jetzt erst sah Simon zur Uhr, es war sieben, der Morgen warf Sonne ins Zimmer, er hatte rund zwanzig Stunden geschlafen. Fühlte sich wach, gut, kräftig, der Kappenschlaf hatte ihn gestärkt. Simon schlich an den Männern vorbei, die ihre Pistolen gesenkt hatten. Im Treppenhaus befand sich niemand. Und jetzt? Er musste irgendwohin. Zu Frau Kubelik? Das war das Einfachste. Er kramte den Schlüssel aus der Tasche, stahl sich hinein, legte von innen sein Ohr ans Türblatt, so würde er die Polizisten hören können, wenn sie im Treppenhaus noch was sagten.
Doch da zwickte ihn etwas. Zunächst in der Nase. Das war ein unangenehmes, stechendes Zwicken, er konnte es nicht zuordnen. Dann zwickte es im Ohr, er hörte ein müdes Knirschen, wie von einer Kuh, die büschelweise Gras rupft und zwischen den Zähnen zermalmt. Simon ging durch den Flur in die Küche, und tot saß sie dort, Waltraud Kubelik, Simon sah es sofort, ihr Kopf auf den ausgebreiteten Unterarmen, ein umgekipptes Glas, eine Pfütze auf dem Tisch, zu wenig Flüssigkeit für ein Rinnsal Richtung Küchenboden. Aussetzer, hatte Gregor gesagt, hast du schon diese Aussetzer gehabt? Hast du schon mal jemanden töten wollen? Unter
Weitere Kostenlose Bücher