Die Tarnkappe
Lebens. Als er sich aufrichtete, sah er Gregor. Dort hinten lief er. Zweihundert Meter. Hechelte. Hätte ich ihn doch. Abgeknallt. Gregors Faust in der Luft. Simon rannte weiter. Nur noch ein kurzes Stück. Er ignorierte den Schmerz im Knie. Dafür juckte es ihn am Kopf, er kratzte sich im Laufen mit der Linken, riss Haare ab und streute sie auf den Weg, als wären sie ein unüberwindliches Hindernis, weiter, Grundton C im Ohr, die Eingangstür des Bahnhofs, endlich, sie stampfte auseinander, Simon lief nach links, und wenn er ruhig bliebe, würde er den Vorsprung nutzen können, er brauchte nur ein paar Sekunden zum Aufschließen. Simon nahm den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger, schaffte es aber nicht beim ersten, nicht beim zweiten, erst beim dritten Mal schlitzte sich der Schlüssel hinein und drehte sich, die Tür federte auf und Simon zog mit einem Schrei der Freude die Tüte heraus. Er schlug die Tür zu und sah sofort Gregors Fratze. Statt Tür jetzt Fratze. Der sprang ihn an, der Kerl, ein Tigersatz, warf Simon zu Boden, die Tüte fiel, sie rangen. Simon bündelte seine Kraft, legte alles in diesen einen wuchtigen Stoß hinein, schleuderte Gregor von sich, rappelte sich auf, griff zur Tüte. Jetzt weg hier. Simon rannte Richtung Toiletten, hechtete über die Eingangsschranke, stürzte in den Toilettenraum, Gregor im Nacken, Simon öffnete die Tür zur Kabine, knallte sie hinter sich zu, schloss ab, hörte das Trommeln, Schreie, Gregors lautes Nein . Simon atmete durch, trank Ruhe, jetzt, wo er die Kappe aus der Tüte nahm und betastete, jetzt, wo sich Tränen in seinen Augen sammelten, endlich bin ich da, angekommen, zu Hause. Simon setzte die Kappe auf. Das Licht zerbrach um seinen Körper, die Fasern zerfielen, das Fleisch löschte sich aus, und er konnte sich nicht mehr sehen. Er hatte gewonnen, lehnte sich zurück, Gregors Trommeln hatte nachgelassen. Wo steckte der Kerl? Simon schaute nach oben und sah Gregor, der seinen Körper über die Kante der Kabine hievte und zu ihm hineinfiel. Auf ihn hinabregnete. Ins Leere schlug. Simon packte Gregors Hals. Schnürte ihm die Luft ab. Die Kappe schickte Ausdauer und Kraft. Wer sie trägt, will sie nicht verlieren und kann seine Anstrengung verdoppeln. Gregor wehrte sich. Aber sein Körper erschlaffte langsam. Seine Augen schmolzen. Starrten ins Nichts. Flehten, baten: Tu’s nicht. Aber Simon hörte nicht auf zu würgen, auch nicht, als Gregor seine Fingernägel in einem Anfall letzter Todespanik in Simons Wangen grub, auch nicht, als er Gregors platzende Augen sah, die blau anlaufende Haut, auch nicht, als er Gregor aushebelte und von den Füßen hob. Der Todgeweihte zappelte noch einmal, dann regte er sich nicht mehr. Aber Simon hörte immer noch nicht auf zu würgen, auch nicht, als Gregor schon längst das Atmen eingestellt hatte. Er hatte es getan, es war nicht so schwer gewesen, und die E-Gitarre in seinem Kopf ebbte ab, nur noch die leiser werdende Mundharmonika. Endlich ließ er Gregor zu Boden gleiten und spürte kurz eine Art Trauerkrampf. Jetzt könnte es still werden. Aber es wurde nicht still. Draußen trommelte jemand. Aufmachen! Simon gähnte. Er musste sich in Sicherheit bringen. Tritte, Stimmen, Schläge, Kommen Sie raus! Simon stemmte sich hoch, mit dem Rücken an die eine Seite der Wand, mit den Schuhsohlen an die andere, er wuchtete sich nach oben, kletterte in die nächste Kabine und von der nächsten in die übernächste, lautlos. Simon ließ sich nach draußen gleiten, stellte sich in die Ecke des Toilettenraums, beim hintersten Waschbecken. Ein zweiter Polizist öffnete die übrigen Kabinentüren. Fehlanzeige. In aller Ruhe stand Simon dort und hätte sich am liebsten eine Zigarette angezündet, wenn das möglich gewesen wäre. Die verriegelte Kabinentür wurde endlich eingetreten. Dort lag Gregor. Neben ihm eine leere Tüte. Vom Mörder keine Spur. Ein Polizist fühlte Gregors Puls, der andere rief einen Krankenwagen. Man zerrte Gregor heraus. Der lebte nicht mehr. Reanimierungshampelei. Quetschen, Beatmen. Ohne Sinn. Dem Polizisten rutschte das Hemd hoch. Simon sah den Saum seiner Unterhose.
»Calvin Klein!«, sagte Simon laut in den Raum.
Der Polizist drehte sich zu seinem Kollegen um.
»Was?«, fragt er.
Und sein Kollege: »Ich hab nichts gesagt.«
25
S imon ging nach Hause, aber seine Gedanken blieben noch eine Weile am Bahnhof, bei Gregor, bei den Videokameras, die dort überall installiert waren. Man hat alles
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