Die Tarnkappe
wach und stellt sich neben das Bett, und Carstens Hände bohren sich wie die Grabeschaufeln eines blinden Maulwurfs ins Innere seiner selbst, er steckt die Mittelfinger in sein Nabelloch und gräbt die Hände in den Körper, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, und er zerrt aus seinen Eingeweiden die nach verwestem Fleisch pestende, wunderschöne Kappe, hält sie in Händen, tritt zu Gregor, der wie erstarrt alles mit angesehen hat, und Carsten stülpt Gregor die Kappe auf den Kopf und fällt zurück in Bett und Apathie und lässt sein Gegenüber allein, und dort steht er, Gregor, verschwindet und sagt: Ich kann mich nicht mehr sehen.
24
S ie hielten nicht direkt vorm Haus der Hackethal, sondern versetzt, gegenüber, sodass sie den Eingangsbereich im Blick hatten. Sie blieben sitzen. Verschnauften. Die Fahrt war gewesen wie ein einziger Marathonlauf. Obwohl der Motor sie getragen hatte und nicht ihre Füße, fühlten sich beide durchgeschwitzt, erledigt. Simon zündete eine Zigarette an, ließ das Fenster runtersurren, blies den Rauch hinaus. Jetzt hieß es: warten. Er schaute auf die Uhr: Viertel nach sieben. Auf dem Weg waren sie nur einmal in stockenden Verkehr geraten, um halb sieben, zu der Zeit, da die Berufspendler in ihre Autos stiegen.
»Wann kommt die Post?«, fragte Gregor.
»Weiß nicht.«
»Wann verlässt die Hackethal ihr Haus?«
»Halbe Stunde.«
»Was machen wir so lange?«
»Warten.«
Ab und an wehte ein Fetzen Qualm ins Auto, obwohl Simon seine Zigarette mit abgeknicktem Handgelenk ins Freie hielt. Schließlich schnipste er sie von sich, und der Stummel kullerte über den Gehweg, glimmte noch ein wenig und tat seine letzten Atemzüge, ehe das Kräuseln des Rauchs endgültig versiegte. Simon schloss die Augen. Versuchte sich abzulenken. Welcher Komponist, fragte er sich, war das gewesen, der gesagt hatte, gute Musik kündige schon zwei Sekunden vor dem Geschehen das Geschehen selbst an? Dimitri Tiomkin? Jetzt also ertönte in Simons Kopf ein Brummen, ein oder zwei Stunden, bevor er zuschlagen und mit dem Schlüssel fortrennen würde, zum Bahnhof. Doch dieses Brummen war keine Musik, es war nichts anderes als der Grundto n C. Simon knabberte an den Fingernägeln und schaffte es nicht, sich abzulenken. Sooft er versuchte, die vorbeiziehenden Leute in eigene, innere Musik zu kleiden, ihren Bewegungen zu folgen, sich eine Melodie auszudenken, ein Thema für den Mann dort mit der Aktentasche, für den Anzugmenschen, für die Mutter (die Linke am Kinderwagen, die Rechte ums Fäustchen des Vierjährigen), für die alte Dame (die mit dem Krückstock den Bürgersteig bestochert), für das Absatzklöppeln der Frau im Minirock; wann immer Simon es versuchte, es gelang ihm nicht, das C war, seit er es zum ersten Mal gehört hatte, nicht wieder verstummt, höchstens übertönt worden vom Motor des Golfs, dieses C aber erstickte alle Musik, die aus Simon hätte kommen können, ich halt das nicht mehr aus, ich muss die Kappe aufziehen, und hoffentlich kommt der Postbote nicht um elf oder zwölf, hoffentlich liegt Hackethals Haus am Beginn seiner Route.
Miriam trug einen knielangen, beigen Rock und hatte das Haar wie immer zurückgebunden, sie stieg in ihren Renault, der auf dem Seitenstreifen parkte, warf einen Blick in den Rückspiegel, sah über die Schulter, fuhr an Gregors Auto vorbei, der nicht wusste, dass es Miriam Hackethal war, an der Ampel knatterte ihr Auspuff, sie wartete auf grün und bog ab.
»Das war sie«, sagte Simon.
»Wollen wir rein?«
»Wir warten auf den Briefträger.«
Was Simon nicht wusste: In Gregors Strumpf, tief unten, am Knöchel, steckte eine Pistole, nicht größer als eine Erbsenpistole, aber bestückt mit todesechten Patronen, sie steckte dort und wartete auf den richtigen Moment.
Um halb neun ging es los.
Gregor sah ihn als Erster.
»Da vorn!«, sagte er.
Der Briefträger erschien am Kopf der Straße, zog aus einem rumpelnden, gelben Karren Briefe und warf sie in die draußen angebrachten Kästen. Lagen die Kästen dagegen drinnen, im Eingangsbereich, so musste er klingeln und warten, bis jemand den Öffner betätigte, oder er kramte einen Schlüsselbund aus der Tasche, ehe er selber die schwere Haustür aufsperrte, für eine Minute im Innern des Hauses verschwand und den gelben Karren auf dem Bürgersteig stehen ließ. Man könnte hinlaufen und dem Karren den Brief entreißen, dachte Simon. Aber Geduld. Nur nicht die Nerven verlieren. Das dauerte. Dann sprach
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