Die Tatarin
vorderen Linie wichen vor dem Ansturm auf die nächste Schanze zurück, die stärker mit Artillerie bestückt war. Die Kanoniere, die teilweise vom Zaren selbst ausgebildet worden waren, feuerten, was ihre Rohre hergaben, und fällten die Angreifer zu Dutzenden, ja zu Hunderten, doch es war, als wüchsen immer neue Feinde aus dem Boden und bewegten sich unaufhaltsam auf die russischen Stellungen zu. Carls Regimenter schmolzen zu Bataillonen zusammen und diese zu Kompanien, doch ihr Vormarsch ließ sich nicht bremsen, und schweres Kanonenfeuer im Rücken der nun exponierten russischen Schanzen zeigte an, dass Lewenhaupt den Sturm gegen das Hauptlager angetreten hatte.
»Wenn wir nicht aufpassen, fallen uns die Schweden in den Rücken und knacken uns wie Läuse«, schrie Stepan Raskin Sergej durch das Dröhnen der Geschütze zu.
»Das möge Gott verhindern!« Wanja, der sonst kühles Blut bewahrte, umklammerte seinen Säbel mit beiden Händen, um deren Zittern zu unterdrücken. Für einige Zeit herrschte wirklich die Angst, die Schweden könnten ihr Umgehungsmanöver genutzt haben, um die russischen Schanzen von hinten aufzurollen. Doch gerade, als die Spannung den höchsten Punkt erreichte, erlahmte das Kampfgeschehen. Die Schweden, die sich bis auf Steinwurfweite an die von Sergej verteidigte Schanze herangekämpft hatten, wichen ein Stück zurück und sammelten sich am Wald von Jakowzy. Doch weder Sergej noch einer der anderen Russen wagte zu hoffen, dass dies schon das Ende war.
XI.
Als Lewenhaupts Brigade das russische Hauptlager attackierte, gab der Zar Befehl, die Frauen in Sicherheit zu bringen. Ein Leutnant der Semjonowski-Grenadiere führte Jekaterina, Marfa, Schirin und die Dienerinnen in einen vorbereiteten hölzernen Unterstand, der dick mit Erde bedeckt war und daher Schutz vor Kanonenkugeln bot. Schirin empfand dieses Loch jedoch nicht als Zuflucht, sondern als Gefängnis, denn die Geräusche der Schlacht fingen sich in den winzigen Luftlöchern und peinigten ihre Nerven. Während Jekaterina und die anderen Gott und die Heilige Jungfrau im Himmel um Beistand für die Armee des Zaren anflehten, galten Schirins Gedanken allein Sergej, den sie mitten in diesem Getümmel wusste. Er hasste die Schweden und vielleicht auch sie, weil man sie ihm aufgedrängt hatte, und sie verging fast vor Angst, er könne einen ruhmreichen Tod einem Leben an ihrer Seite vorziehen. So flehte sie Allah und alle christlichen Heiligen, deren Namen sie gehört hatte, an, über Sergej zu wachen.
Die kurzzeitige Feuerpause vermochte nicht, ihr die innere Ruhe zurückzugeben, während Jekaterina erleichtert aufsah und zur Falltür eilte, die man hinter ihnen geschlossen hatte. Sie klopfte dagegen und rief mit hoffnungsvoller Stimme: »Was ist, haben wir gesiegt?«
Die Tür schwang auf, und ein Gardist steckte den Kopf herein. »Nein, Mütterchen! Die Schweden sammeln sich nun für ihren Generalangriff.« Er hätte keine schlechtere Nachricht bringen können. Jekaterina stöhnte auf und schlug die Hände vor das Gesicht, und Marfa sprach mit blutleeren Lippen das nächste Gebet. Schirin eilte zur Tür und verhinderte, dass der Soldat sie wieder schloss.
»Lass auf! Wir kriegen sonst keine Luft mehr.« Als der Mann zögerte,fuhr sie ihn an, dass sie und die anderen Damen sich gewiss nicht unter die Öffnung stellen würden, sollte eine schwedische Kanonenkugel hier einschlagen. Der Gardist sah Jekaterina fragend an und erhielt ein zustimmendes Nicken, gleichzeitig klangen die Trompeten und Trommeln auf und kündeten den neuen Sturm der Schweden an. Jekaterina und die übrigen Frauen zogen sich in die hinterste Ecke des Unterstands zurück und riefen Schirin, es ihnen gleichzutun. Die sah jedoch gerade, wie der Soldat vor dem Unterstand auf ein Signal hin nach vorne stürmte, um den Platz bei seinen Kameraden einzunehmen. Den Befehl, auf die Damen zu achten, hatte der Mann im Eifer des Gefechts völlig vergessen.
Flink wie ein Eichhörnchen kletterte Schirin die Leiter hoch, schlüpfte hinaus und sah sich kurz um. Der dichte Rauch, der über dem Schlachtfeld lag, zitterte im Takt des Kanonenfeuers. Noch hatte kein Schwede den Lagerwall überwunden, doch den Rufen der Offiziere nach musste der Feind bereits dagegen anstürmen. Trotz der Gefahr stand der Zar auf der vordersten Bastion, richtete mit eigener Hand die Kanonen und trieb die Artilleristen zu höchster Leistung an. Schirin hatte nur einen kurzen Blick für ihn übrig,
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