Die Tatarin
in eine Festung verwandelnde Lager an der Vorskla kam und sich neue Befehle geben ließ. Es hatte sich weder Zeit noch Gelegenheit ergeben, miteinander zu reden, daher waren beider Herzen zum Überfließen voll mit Worten, die sie einander nicht sagen konnten. Mehr als einmal war Schirin nahe daran, wieder Männerkleidung anzulegen und sich Sergejs Trupp anzuschließen, der mit seinen Steppenteufeln, wie seine Reiter inzwischen überall genannt wurden, Jagd auf schwedische Furagetruppen machte. Unklugerweise verriet sie Marfa Alexejewna ihre Absicht. Ihre Tante schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen, und Jekaterina hielt ihr einen Vortrag darüber, was sich für eine verheiratete Frau schickte und was nicht. Schlimmer aber war, dass sie danach wie eine Gefangene überwacht wurde und keine Chance bekam, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
Unterdessen stieg die Spannung in beiden Heeren bis zur Unerträglichkeit. Die schwedische und die russische Hauptmacht lagen keine Wegstunde auseinander, und ihre Streifscharen gerieten sichständig in die Haare. Viele der Russen hofften, ihre offensichtliche Überzahl würde die Schweden dazu bringen, das Feld zu räumen, zumal Carl XII. bei der Inspektion der Belagerungstruppen am Fuß verwundet worden sein sollte.
Schirin kannte den schwedischen König jedoch besser und war am wenigsten überrascht, als zu einer frühen Morgenstunde Ende Juni der Klang der Alarmtrompeten misstönend über das russische Lager hallte und die Trommeln zum Sammeln riefen. Erwartungsvoll stürmte sie aus dem Zelt, das sie mit Marfa Alexejewna und einer Dienerin teilte, und sah sich um. Der Zar hatte seine Unterkunft bereits verlassen und stand, den Degen in der Faust, auf dem freien Platz in der Mitte des Lagers. In seinem Gesicht arbeitete es heftig. Der Tag, den er gleichzeitig herbeigesehnt und gefürchtet hatte, war angebrochen.
Als Jekaterina zu ihm lief, zog er sie wie zum Abschied kurz an sich. »Die Schweden greifen an! Sie haben bereits in der Nacht mit mehreren Kolonnen den Vormarsch auf unser Lager angetreten.«
»Gott möge uns schützen!«, rief seine Geliebte und schlug das Kreuz.
Marfa und die Dienerinnen rangen, obwohl sie wie alle seit dem Überschreiten der Vorskla um ihre Lage wussten, die Hände und stimmten ein Gebet an, um die quälende Angst niederzukämpfen. Um sie herum liefen die Soldaten wirr durcheinander. Offiziere fanden ihre Mannschaften nicht, diese verfehlten ihre Sammelplätze, und für Augenblicke herrschte ein Chaos wie damals an der Narwa.
»Bewahrt Ruhe, ihr verdammten Hunde! Stellt euch dort auf, wo ihr hingehört, sonst wird euch der Teufel noch vor dem Abendgebet holen«, schrie der Zar einige Soldaten an, die Anstalten machten, sich in die hintersten Reihen zu flüchten.
Die Stimme ihres Herrschers brachte die Männer zur Besinnung. Leutnants und Majore drängten sich durch die Menge und riefen ihre Leute zu sich; Fähnriche eilten mit ihren Bannern herbei und stelltensich neben ihren Kommandeuren auf; Trommler und Trompeter gesellten sich hinzu, und schließlich führten kampferprobte Unteroffiziere und erfahrene Veteranen die Rekruten zu den Fahnen. Rascher, als es bei dem ersten Durcheinander zu erwarten gewesen war, sammelten sich Kompanien und Regimenter und marschierten zu den ihnen zugewiesenen Stellungen, während Schüsse und fernes Geschrei anzeigten, dass die Schweden bereits die russischen Vorposten angriffen.
Jekaterina schlang die Arme um ihren Geliebten und küsste ihn auf den Mund. »Gottes Segen sei mit dir, mein Herr!«, flüsterte sie unter Tränen und riss sich dann von ihm los. In dieser Schlacht musste der Zar seinen Männern ein Beispiel geben, und sie fragte sich, ob sie ihn noch einmal lebend wieder sehen würde. Mit müden Schritten kam Jekaterina auf Marfa und Schirin zu und umklammerte sie für einen Augenblick, so als wollten ihre Füße sie nicht mehr tragen. »Kommt, lasst uns beten!«, forderte sie sie auf und kniete nieder. Schirin folgte ihrem Beispiel, auch wenn sie die frommen Worte nicht kannte, welche die anderen Frauen sprachen. Ihre Gedanken flogen zu Sergej, den sie liebte und dem sie diese Liebe bislang noch nicht offenbart hatte. Sie fühlte sich hilfloser als an jenem Tag, an dem der Zar sie als Bahadur in Ketten hatte schlagen lassen, und sie starb fast vor Angst um ihren Mann, der vielleicht fallen würde, ohne je erfahren zu haben, wie sehr sie ihn liebte. Wie sie ihn kannte, würde er sich in
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