Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
in sich gekehrten Jungen in ein Gespräch zu verwickeln. »Gefällt es dir hier?«, fragte sie ihn, als er sein Glas aus der Wasserflasche füllte.
    Schirin zog eine Schulter hoch. »Die Jurte meines Vaters würde mir besser gefallen, könnte ich jetzt darin sitzen.«
    Marfa Alexejewna schien die Ablehnung in der Stimme ihres jungen Nachbarn nicht zu bemerken. »Der Saal ist von einem französischen Baumeister errichtet worden, einem wahren Künstler seines Fachs, und die Bilder ringsum stammen von den besten Malern der Niederlande, Deutschlands und Italiens.«
    »Sie werden ja auch sorgsam behandelt!«, antwortete Schirin bissig.
    »Natürlich tut es einem weh, zusehen zu müssen, wenn solch schöne Dinge zu Schaden kommen, doch in unserem Mütterchen Russland gibt es Maler, die sie rasch ausbessern können. Wenn Alexander Menschikow in seinen Palast zurückkehrt, wird alles glänzen, als sei es neu, und sollte wirklich ein Bild unwiederbringlich zerstört sein, ist er reich genug, sich zehn neue kaufen zu können.« Marfa Alexejewna ließ sich nicht anmerken, wie sie zu den Sitten ihres Volkes stand, sondern beobachtete aufmerksam ihr Gegenüber. Es schien ihr gelungen zu sein, den Panzer des Jungen ein wenig zu durchbrechen, denn Bahadur deutete auf die Nischen mit den Statuen.
    »Die meisten Bilder sind sehr schön, aber mich stoßen die kaum angezogenen Leute auf einigen von ihnen genauso ab wie die nackten Gestalten dort. Das ist schamlos!«
    Marfa Alexejewna lächelte. »Mir gefällt auch nicht alles, was hier zu sehen ist. Aber Gott, der Herr, hat die Menschen nun einmal so geschaffen, und daher ist es recht und billig, ihre Schönheit und Anmut durch begnadete Künstler einfangen zu lassen.«
    Schirin hatte gelernt, dass Bilder mit Menschen Allah ein Gräuel waren, aber die Leute hier kannten Seine Gesetze augenscheinlich nicht, und sie wollte nicht mit der Frau streiten. »Solche Bilder sollte man für sich betrachten und nicht auch noch anderen Leuten zeigen.«
    Marfa Alexejewna tätschelte Bahadur mit einer zärtlichen Geste die Hand. »Du sprichst mir aus der Seele, Söhnchen. Doch VäterchenZar will unser Volk aufrütteln und die Grundfesten des alten Russlands erschüttern. Das kann er nicht im stillen Kämmerlein tun.«
    »Dann sollte er aufpassen, dass er nicht zu viel rüttelt und sie zum Einsturz bringt!« Schirin hatte für einen Augenblick vergessen, dass der Zar direkt neben ihr saß, und sprach nicht gerade leise.
    Pjotr Alexejewitsch schnaubte verärgert und maß sie mit einem strafenden Blick. Dann aber lachte er hart auf. »Ich werde die Grundfesten Russlands zerschmettern und sie neu erbauen!« Sein Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
    Schirins Blick suchte unwillkürlich den Zarewitsch, dem man einen Platz bei Wanjas Dragonern zugewiesen hatte. Er hatte den Ausruf seines Vaters vernommen und zog ein Gesicht, als wäre er vor allen Leuten geohrfeigt worden. Dabei umklammerte seine Hand das Gewand seines Beichtvaters, der mehrmals das Kreuz schlug, als wolle er den Teufel austreiben, und Gebete vor sich hin murmelte.
    Der Zar deutete auf Ignatjew. »Der Kerl dort verkörpert das alte Russland, das ich umstürzen will, und mir kocht die Galle über, wenn ich daran denke, dass mein Sohn lieber auf diesen Popen hört als auf mich. Ich sollte diesen Mann auf ein Schiff bringen und über dem tiefsten Grund des Ozeans ins Wasser werfen lassen. Kommt er dann trockenen Fußes ans Ufer, so wie einst Christus am See Genezareth, so will ich ihm zugestehen, dass das alte Russland stärker und mächtiger ist, und mich vor ihm verneigen.«
    Der Zarewitsch sah so aus, als suche er ein sicheres Versteck, in dem sein Vater ihn nicht würde finden können, und sein Beichtvater stierte bleich zur Tür, als wolle er der Runde entfliehen, ehe der Zar seine Worte in die Tat umsetzte. Ihre entgeisterten Mienen reizten Pjotr Alexejewitsch zu einem schallenden Gelächter, und das war das Signal für die anderen Gäste, ebenfalls über den Zarewitsch und den Protopopen zu lachen. Wer sich nicht daran beteiligte, den traf das zürnende Auge des Zaren. Schirin ahnte nun, dass der Herr über Russland seinen Sohn Alexej bereits aufgegeben hatte und sich von seiner Favoritin Jekaterina einen anderen Erben erhoffte, undplötzlich tat der Zarewitsch ihr Leid. Es war gewiss nicht leicht für ihn gewesen, als Sohn einer verstoßenen Mutter aufzuwachsen und zwischen seiner Liebe zu ihr und seiner Pflicht dem Vater gegenüber

Weitere Kostenlose Bücher