Die Tatarin
Mutter des Zaren und eine der besten Freundinnen seiner Konkubine Jekaterina.
Auf Befehl des Zaren traten andere Diener vor, nahmen die Flaschen, die neben den Tellern standen, und füllten die Gläser der Gäste mit Wodka. Schirin starrte mit gerümpfter Nase auf den Schnaps und wollte ihr Glas wegschieben, doch als der Zar sich erhob und das Glas in die Höhe reckte, berührte Marfa Alexejewna sie am Arm.
»Trink ruhig! Deine Flasche ist nicht mit Wodka, sondern mit Wasser gefüllt«, raunte die Frau ihr zu.
Schirin war noch nicht völlig überzeugt, aber als sie verstohlen an der Flüssigkeit roch, stach ihr zu ihrer Erleichterung nicht jener unangenehme Geruch in die Nase, der ihr jedes Mal Übelkeit bereitete.
»Auf Russland und darauf, dass es aus diesem Krieg gestärkt hervorgeht!« Der Trinkspruch des Zaren zwang seine Gäste, aufzustehen,die Gläser zu heben und deren Inhalt hinunterzustürzen. Einen Augenblick später eilten die Diener herbei, um nachzuschenken.
Schirin nickte ihrer Nachbarin dankbar zu und fragte sich gleichzeitig, ob der Zar davon wusste. Der leicht spöttische Blick, mit dem Jekaterina sie streifte, verriet, dass zumindest Pjotr Alexejewitschs Favoritin das Geheimnis ihrer Flasche kannte.
Der Zar, Fürst Apraxin und die übrigen hohen Herren des Russischen Reiches sparten nicht mit Trinksprüchen, und ihre Damen wiederholten sie genauso begeistert wie die Matrosen der Sankt Nikofem und Wanja mit seinen Dragonern, die weiter unten an der Tafel saßen. Die meisten Geiseln tranken zwar kräftig mit, saßen sonst aber stumm da und starrten auf ihre teilweise schon durchgebluteten Verbände. Die Sibirier hatten sich nicht so gut gegen die Schweden geschlagen, wie der Zar und Sergej es gehofft hatten, und zwei von ihnen würden niemals in die Steppe zurückkehren. Für Jemeqs Tod hatte Schirin nur ein innerliches Schulterzucken übrig, weil er feige und hinterhältig gewesen war; um den anderen aber tat es ihr Leid, denn bei ihm hatte es sich um einen der beiden Männer gehandelt, die sich in Moskau auf ihre und Ostaps Seite gestellt hatten. Ostap selbst hatte tapfer gekämpft und, wie Wanja eben berichtete, drei Schweden verwundet und einen von ihnen vielleicht sogar getötet. Der Junge glühte vor Stolz und hob sein Glas bei jedem Toast, auch wenn man ihm zu seiner Enttäuschung nach dem ersten Wodka nur noch Wein eingeschenkt hatte.
Bald herrschte um Schirin herum ausgelassene Fröhlichkeit. Die Gäste priesen die Fortune des Zaren, der die Schweden selbst in dieser verfänglichen Situation nichts hatten anhaben können, mit immer neuen Worten; Schirin aber fühlte sich von Minute zu Minute elender und hätte sich am liebsten irgendwo verkrochen. Der Schrecken des Kampfes und der unmittelbaren Nähe des Todes wühlte in ihr, und sie musste sich auf dem Tisch abstützen, um nicht kraftlos in sich zusammenzusinken. Da sie Angst hatte, ihre Stimme würdewie die eines kleinen Mädchens klingen und sie verraten, wagte sie auch nicht, auf Marfa Alexejewnas Bemerkungen einzugehen, die immer wieder versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Ihre Gedanken glitten zurück in die heimatliche Steppe, deren Regeln und Gesetze sie kannte und in der sie trotz aller Gefahren dem Tod noch nie so nahe gewesen war wie an diesem Tag. Wurde ein Stamm von einem anderen überwältigt, tötete der Sieger in der Regel nur die erwachsenen Männer. Frauen und Kinder wurden als Beute mitgenommen, und während man die Jungen zu Sklaven machte, kamen die Frauen in die Zelte ranghöherer Stammesmitglieder und wurden oft zu anerkannten Nebenfrauen, die zur Sippe zählten. Im Augenblick hätte Schirin es sogar vorgezogen, als Sklavin im Zelt einer Nebenfrau schuften zu müssen, als in diesem Russland gefangen zu sein wie ein Raubvogel, der an seine Stange gefesselt war.
Seit sie das Ordu an der Burla verlassen hatte, musste sie zum ersten Mal wieder an ihren Jagdfalken denken. Sie hatte das Jungtier verletzt aufgefunden und gesund gepflegt. Zu ihrer großen Verwunderung hatte man ihr das Tier nicht abgenommen, obwohl Frauen der Besitz von Jagdvögeln eigentlich verboten war. Stattdessen hatten Zeyna und ihre Freundinnen nur mit ihr geschimpft und die Männer sie so lange verspottet, bis sie die erste Beute heimgebracht hatte. In jener Nacht, in der Zeyna aus ihr einen jungen Mann gemacht und ihr Leben von Grund auf verwandelt hatte, hatte sie dem Falken Haube und Fußfessel abgenommen und ihn freigelassen. Sie
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