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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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konnte nur hoffen, dass das schöne Tier zu seinesgleichen zurückgefunden hatte und so lebte, wie seine Natur es verlangte. Ihr selbst blieb diese Gnade versagt, denn sie würde eine Gefangene der Russen und ihres Geheimnisses bleiben, bis der Tod sie erlöste.
    An diesem Abend spürte sie besonders heftig, dass ihr ein Mensch fehlte, mit dem sie offen reden und bei dem sie in dieser ihr unverständlich fremden Welt Halt hätte finden können. Doch das falsche Spiel, das Zeyna mit den Russen gespielt hatte, verbannte sie trotz der vielen Menschen um sie herum in tiefste Einsamkeit.
    Schirin schüttelte die Versuchung ab, sich in sich selbst einzuspinnen, lauschte den Gesprächen und beobachtete die Menschen um sie herum. Ihr Interesse galt hauptsächlich dem Zaren, dessen Unberechenbarkeit die größte Gefahr für sie darstellte. Pjotr Alexejewitsch hatte seine Wodkaflasche schon mehr als zur Hälfte geleert und überdies noch etliche Gläser dunklen Weines und mindestens zwei Krüge Bier getrunken. Sie erinnerte sich daran, dass ihr von einem einzigen Krug Bier schwindelig geworden war, und fragte sich, wie es in seinem Kopf und in seinem Magen aussehen mochte. Äußerlich war dem Herrn über Russland außer einem geröteten Gesicht nichts anzumerken. Er unterhielt sich lebhaft mit Jekaterina, Apraxin und einigen anderen Mitgliedern seines Hofstaats, und seine Stimme klang dabei so klar und deutlich wie sonst auch, im Gegensatz zu den sibirischen Geiseln, die nach ein paar Gläsern Wodka schon begonnen hatten, zu lallen und zu kichern.
    Ein scharfer Ruf des Zaren, der wohl einem besonders aufwändig gekleideten Diener galt, ließ Schirin zusammenzucken, und sie starrte unwillkürlich auf die Tür, durch die der Mann eilig verschwand. Nur wenige Augenblicke später kehrte er zurück und hielt die Tür für eine Gruppe Palastwachen auf, die den Zarewitsch und dessen Beichtvater Ignatjew hereinführten.
    Die Augen des Zaren flammten wie im Zorn auf, um seinen Mund aber spielte ein undefinierbares Lächeln. »Setz dich, Alexej, und trinke ein Glas auf die Schweden, deren Hände es versäumt haben, dich an diesem Tag zum Zaren zu machen.«
    Auf einen Wink Pjotr Alexejewitschs reichte ein Diener dem Zarewitsch ein bis zum Rand gefülltes Wodkaglas. »Trink, mein Sohn!«
    Alexej starrte auf das Wodkaglas, als wäre es sein Feind, hob es aber mit zittrigen Fingern auf und deutete damit auf seinen Vater. »Auf deine Gesundheit und deine glückliche Rückkehr von dieser Ausfahrt!«
    Er presste die Worte heraus und kämpfte sichtlich mit Tränen des Selbstmitleids. Die Schnelligkeit, mit der er sein Glas leer trank, riefbei einigen der Anwesenden anerkennendes Staunen hervor, doch als Alexej das Glas dem Diener zurückreichen wollte, hob der Zar sein eigenes Glas.
    »Auf das Russland, das ich formen werde!« Er stürzte den Wodka noch schneller hinab als sein Sohn und schleuderte sein Glas gegen die Wand, so dass es in winzige Stücke zerstob. Dem Zarewitsch war klar, dass sein Vater und dessen Gefolgsleute nun von ihm einen Trinkspruch auf den Zaren erwarteten, und ließ sich sein Glas wieder füllen.
    »Auf Russland!«, brachte er halb erstickt hervor, trank aus und schmetterte das Glas mit solcher Wucht gegen die Wand, dass eines der Gemälde des abwesenden Fürsten Menschikow Schaden nahm.
    Schirin griff sich an den Kopf, verbarg die Geste aber schnell, indem sie so tat, als müsse sie sich eine lästige Strähne aus der Stirn streichen. Irgendwelche Dämonen mussten die Russen innerlich so verdreht haben, dass sie nicht mehr denken und handeln konnten wie vernünftige Leute, und der Zar schien von einem besonderes starken Dschinn besessen zu sein. Pjotr Alexejewitsch besaß eine große Stadt mit goldenen Palästen und hauste dennoch in einer hölzernen Hütte mitten in einem riesigen Sumpf zwischen dem festen Land und dem Meer. In dieser lebensfeindlichen Umgebung errichteten ihm seine Untertanen nun einen märchenhaft ausgestatteten Saal in einem noch unfertigen Gebäude ohne Dach, und anstatt dieses Kunstwerk pfleglich zu behandeln, gingen er und sein Gefolge damit um, als handele es sich um einen Schweinestall.
    Schirin war in Gedanken so mit dem Zaren beschäftigt, dass sie den Blicken, die Marfa Alexejewna ihr schon den ganzen Abend zuwarf, keine Beachtung schenkte. Jekaterinas Freundin war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass Bahadur auf keinen Fall ein echter Tatar sein konnte, und versuchte immer wieder, den

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