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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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öffnete zwar den Mund, schloss ihn jedoch sofort wieder und blickte scheinbar gleichgültig zum Fenster hinaus.
    Pjotr Alexejewitsch setzte seine Ausführungen anhand einer Karte fort, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Carl XII. wird seine mehr als sechzigtausend Mann starke Armee in Polen aufstellen und von dort aus losziehen. Hier in Livland« – der Finger des Zaren wanderte auf der Karte nach Nordwesten – »steht General Lewenhaupt mit ungefähr zwanzigtausend Mann. Laut Order soll er sich erst auf russischem Boden mit der Armee seines Königs vereinigen.«
    »Dann wären es über achtzigtausend Mann, die die Schweden gegen uns führen!«, brach es aus Pawel Nikolajewitsch Gjorowzew heraus. Die Angst vor einer so gewaltigen Armee stand ihm wie auch einigen anderen ins Gesicht geschrieben.
    Der Zar blies die Luft aus den Lungen, bevor er weitersprach. »Das ist noch nicht alles! In Finnland« – jetzt wanderte sein Finger nordwärts über den Finnischen Meerbusen – »sammelt General Lybecker ein Heer von etwa dreißigtausend Mann, um in Ingermanland einzufallen und Sankt Petersburg zu erobern. Das muss unter allen Umständen verhindert werden!«
    »Das ist typisch für Pjotr Romanow! Was aus Russland wird, interessiert ihn nicht. Hauptsache, diesem Sumpfloch hier, an dem er einen Narren gefressen hat, passiert nichts«, raunte Pawel Gjorowzew dem rechts von ihm sitzenden Offizier zu.
    Dieser schüttelte langsam den Kopf. »Sankt Petersburg ist sowohl für die Schweden wie auch für Russland das Symbol dieses Krieges. Wer es nach Friedensschluss besitzt, wird Sieger sein, egal was sonst noch geschieht.«
    Gjorowzew spürte die Zurückweisung und kniff verärgert die Lippen zusammen. Pjotr Alexejewitsch kümmerte sich nicht um das Gemurmel, sondern erläuterte, wie er dem Angriff der Schweden begegnen wollte. »Wäre Carl XII. in der Lage, sich zu teilen und jede seiner Heersäulen in eigener Person zu führen, sähe die Lage wahrscheinlich hoffnungslos aus«, gab er zu. Das seltsame Lächeln auf seinen Lippen nahm diesen Worten jedoch die Wirkung. Fjodor Apraxin, Repnin und die meisten der anderen wussten, was er damit ausdrücken wollte. Der Schwedenkönig mochte als Feldherr jenes Genie sein, als das man ihn im Westen bezeichnete; seine Generäle aber waren auch nur Menschen.
    Die Besprechung beim Zaren endete erst, als die Mittagszeit sich schon dem Ende zuneigte, und so lud Pjotr Alexejewitsch seine Offiziere zum Essen ein. Jekaterina und ihre Vertraute Marfa Alexejewna hatten eigenhändig gekocht. Es gab kräftige, wohlschmeckende russische Kost mit Suppe und Fleischpasteten sowie einen großen, steinharten Käse, den Pjotr Alexejewitsch sich aus Holland hatte schicken lassen. Großzügig ausgeschenkter Wodka und gutes Hamburger Bier hellten die Stimmung rasch auf, und als für diejenigen, die noch nicht satt geworden waren, ein mächtiger Schinken aufgetragen wurde, konnten die meisten schon wieder über die schwedische Gefahr lästern.
    »Wir werden die Kerle zusammenhauen, Väterchen Zar, und zwar so!«, rief Repnin und trieb sein Messer bis ans Heft in den Schinken. »Wenn du schon dabei bist, kannst du mir auch ein Stück abschneiden«, antwortete der Zar und wandte sich dann an Jekaterina. »Bring Brot, Mütterchen! Siehst du denn nicht, dass es uns ausgeht?«
    Auf einen Wink Jekaterinas verschwand Marfa durch die Tür und kehrte wenige Augenblicke später mit mehreren duftenden Laibenzurück. Der Zar packte einen davon, riss sich ein Stück ab und steckte es in den Mund.
    »Wir sind uns also einig! Apraxin übernimmt das Kommando über Sankt Petersburg, während ich noch in dieser Woche nach Süden aufbrechen werde, um die Arbeiter der Geschützgießereien zu äußerster Leistung anzutreiben. Wenn der Schwede kommt, werden wir jede Kanone brauchen.«
    »Carl XII. wird sich für die Beute bedanken, so wie damals an der Narwa«, murmelte Gjorowzew leise vor sich hin.
    Iwan Iljitsch Fjodorow, sein Nachbar zur Linken, hörte seine Worte und zeigte sich empfänglicher als der Mann auf der anderen Seite. »Da habt Ihr verdammt Recht, Pawel Nikolajewitsch. Es ist Wahnsinn, sich gegen eine solch riesige Armee zu stellen. Die Schweden werden unsere Truppen überrennen und bis nach Moskau, ja bis zum Ural vordringen und einen Zaren nach ihrem Belieben auf den Thron setzen.«
    Jetzt erst begriff der Mann, was er gesagt hatte, und blickte sich entsetzt um. Zu seinem Glück hatte nur Gjorowzew ihn gehört, und

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