Die Teeprinzessin
Straßendreck? Aber Zügel gab es hier nicht, und anscheinend war bei der wilden Jagd sogar der Ochsenziemer abhandengekommen, der zuvor noch in dem eisernen Köcher gesteckt hatte.
»Abspringen können wir mit der Ware jedenfalls nicht«, rief Betty. »Vielleicht sind sie einfach irgendwann müde und halten an.« Sie hoffte es inständig.
Endlich sahen sie in der Ferne die Umrisse einer Stadt. Das musste wohl Schanghai sein. Als sie das Stadttor erreichten, wurde dieses trotz der späten Abendstunde zu Bettys Erstaunen noch einmal für sie geöffnet. Nach dem Woher oder Wohin wurden sie nicht gefragt, aber das hätten sie dem Wachmann in seinem rot-schwarzen Gewand auch nicht sagen können. Die Ochsen dachten nämlich immer noch nicht daran, stehen zu bleiben. Mittlerweile zuckelten sie zwar wirklich nur noch vor sich hin, aber zum Stillstand kommen, das war Betty klar, würden sie nur, wenn es ihrem unerforschlichen Ochsenhirn beliebte.
Sie bogen mehrfach ab. Vor den kleinen zweistöckigen Häusern hockten Menschen, deren Umrisse man kaum erkennen konnte. Einige von ihnen hatten kleine Feuer entfacht und erhitzten
darüber ihr Essen, das in riesigen flachen Eisentöpfen gerührt wurde, ohne dass sich einer der Besitzer dafür erhob. In Schanghai schienen die Menschen anderes Essen zu mögen als in Kanton. Hier duftete es scharf nach Pfeffer und der bei ßende Geruch des roten Chili kitzelte in Bettys Nase, sodass sie ein Tuch darüberhalten musste. Die beiden Ochsen liefen unverdrossen weiter.
Überall hockten die Menschen und starrten in ihre Töpfe. Betty wunderte sich, dass niemand ihnen Beachtung schenkte. Erschienen sie den Leuten hier nicht interessant? Eine junge europäische Frau mit wehendem Haar, mit einem indischen Sari bekleidet, der aber schon etwas derangiert aussah. Neben ihr eine immer noch vor Angst zitternde Inderin, die hier vermutlich niemand als eine solche erkennen würde. Aber nicht einmal ihre Ware, die sich meterhoch türmte, schien die Aufmerksamkeit der Menschen länger als für einen kurzen Augenblick zu fesseln. Stattdessen lachten sie offenbar über ein Huhn, das seinem Besitzer entflohen war und das nun knapp vor dem Ochsenkarren die Straße überquerte.
Die Straßen wurden dunkler und enger. Fast konnte man die Häuser mit den Händen berühren. Schon glaubte Betty, sich gelegentlich ducken zu müssen, wenn sie unter einem der geschnitzten, vorstehenden Holzbalkone hindurchfuhren. Manchmal, wenn sie hinaufsah, konnte Betty den schwarzen Himmel nicht mehr sehen. Aus den Häusern drang der muffige Geruch von altem Holz und von Gewürzen, deren Namen Betty nicht kannte. Und war da nicht auch plötzlich ein ganz anderer Hauch in der Luft, süßlich und beißend zugleich? Vor einem Haus hing eine gelbliche Laterne, davor stand ein Mann und nickte ihnen freundlich zu. Betty drehte sich auf ihrem Kutschbock um, um ihn noch länger mustern zu können. War er ein Türwächter oder war es nicht vielmehr so, dass er die
Leute in sein Haus hineinlocken wollte? Betty spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief.
Sikki hielt sich ein Tuch vor den Mund. »Opium«, flüsterte sie. »Atme es nicht zu tief ein!« Sie streckte ihren Fuß aus und versuchte, einen der Ochsen in sein dickes Hinterteil zu treten, damit er schneller ginge. Aber der Ochse schien es überhaupt nicht zu bemerken.
Betty spürte den besonderen Geruch des Opiums bereits in ihrem Hals. Es schmeckte wie parfümierter Pfeifenrauch.
Die Ochsen aber trotteten unverdrossen weiter. Je weiter sie vorankamen, desto schmaler wurden die Straßen. Dann knirschte plötzlich Holz auf Holz und der Karren blieb stehen. Sie waren tatsächlich stecken geblieben. Eingezwängt zwischen dem Vorbau eines verfallenen Lagerhauses und einem Wohnhaus, aus dem nun eine Frau herausschaute.
Betty kletterte über die Ladung nach hinten und sprang auf die Straße. Der Boden unter ihren Füßen war staubig und warm. Sikki folgte ihr leise schimpfend. Es sei nicht gut, in einer Gegend wie dieser vom Wagen zu klettern. Betty spähte die Straße entlang und tastete sich ein paar Schritte weit zurück, um in einen der breiteren Hauseingänge zu blicken. Eine große Fledermaus flog dicht an ihrem Gesicht vorbei. Sie erschrak und musste sich an dem geschnitzten Torbogen festhalten. Da spürte sie plötzlich einen leisen Windhauch, in den sich ein ganz neuer Duft mischte: Meeresluft, klar und warm und salzig. Betty roch den Teer auf den Schiffen, das
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