Die Teeprinzessin
Spezialität, das haben sie hier erfunden. Gehe nie am Abend vor einer großen Schiffsabfahrt in eine Opiumhöhle, sonst wachst du drei Tage später auf hoher See wieder auf und kannst den Rest deines Lebens auf so einem Kahn arbeiten!« Er zögerte. »Oder du findest dich in einem fernen Land wieder und kennst da keine Menschenseele. Aber bei den Chinesen mag das ja noch angehen, dass sie in die Neue Welt kommen, das ist bestimmt besser für diese Menschen. Dann lernen sie mal ein kultiviertes Land kennen. Und arbeiten können sie auch gut, habe ich gehört!«
Was bildete sich dieser Soldat nur ein, so zu sprechen? Betty hatte Mühe, ihm mit nichts als mit einer sachlichen Frage zu antworten. »Wissen Sie denn, ob Kapitän Ross noch freien Laderaum hat?«
Die Männer brachen in Gelächter aus. »Das ist ein alter Trunkenbold. Dem vertraut sich hier freiwillig keiner an. Und niemand will ihm Beiladung mitgeben. Wer will schon
seine guten Seiden von stinkenden Chinesen verpesten lassen?«
Betty rümpfte die Nase. »Vermutlich waren es dieselben Chinesen, die diese Seiden gewebt haben!«
Die Männer legten einander die Arme um die Schultern. »Unsinn. Die Seide wird von Raupen gewebt. Das machen die hier nicht selbst!« Er rülpste und schien darüber selbst zu erschrecken. »Ross ist in eine der Kaschemmen da hinten gegangen. Er hatte wohl noch nicht genug. Fragen Sie ihn doch selbst, wenn Sie wollen. Uns soll das egal sein!« Damit zogen sie abfällig murmelnd weiter. Einer der Männer sah sich noch einmal um. Sein schwankender Finger zeigte auf das erste Haus in einer kleinen Häuserreihe.
Betty seufzte. Dann machte sie sich auf den Weg.
Der Geruch von Alkohol und von Opiumrauch hatte die Luft schwer gemacht. Der leichte Meerwind war eingeschlafen. Es war jetzt so dunkel, dass Betty kaum noch erkennen konnte, wohin sie trat. Die beiden schwankenden Funzeln, die vor jedem der Häuser hingen, gaben nur ein spärliches Licht. Sie tastete sich langsam voran, zu dem Haus, auf das der Soldat gezeigt hatte. Die Tür sah aus, als sei sie nicht leicht zu öffnen. In der geschnitzten Holzoberfläche fand Betty keinen Türgriff. Doch als sie ihre Finger über die Oberfläche gleiten ließ, schwang die Tür plötzlich auf, und sie sah in einen rauchigen Raum mit vielen Nischen, in denen kurze geflochtene Liegen standen. Auf den meisten dieser Betten lagerten einzelne Männer. Einige schliefen in zusammengekrümmter Haltung. Andere sahen aus, als habe sie der Blitz mitten in einem Gespräch getroffen. Sie glotzten ins Leere und hielten dabei nicht selten noch ihre Pfeifen in der Hand. In einer der Nischen ruhte sogar die junge Frau, die Betty kurz zuvor noch an den Kais gesehen hatte. Ihre Röcke waren hochgerafft, und sie lag dahingegossen
wie eine gepflückte Blume, aber an diesem unsittlichen Anblick störte sich niemand. Jeder ging nur seiner eigenen Leidenschaft nach. Noch niemals hatte Betty so viele Menschen in einem Raum gesehen, die so wenig Notiz voneinander nahmen. Sie selbst hatte das Gefühl, dass allein schon der süßliche Geruch des Opiums sie benommen machte. Der Rauch biss in den Augen, sodass sie gar nicht mehr aufhören konnte zu blinzeln. Wie sollte sie hier nur Kapitän Ross finden?
»Eine kleine Pfeife? Oder eine große Pfeife? Die ersten fünf Pfeifen sind umsonst!« Die alte Frau war von den langen Tagen ihres Lebens so gebeugt und schartig wie eine Baumwurzel. Ihre Stimme war einschmeichelnd. »Kommen Sie nur mit, ich habe noch ein schönes Opiumbett für Sie frei.« Ihre Finger krallten sich in Bettys Oberarme, sodass sie sich vorsichtig wieder losmachen musste. »Sie sehen so besorgt aus. Ich werde Ihnen acht Pfeifen umsonst geben.« Sie lachte knarrend. »Das reicht für eine Woche schönster Träume. Sie werden sehen, in wenigen Minuten fühlen Sie sich besser als je zuvor.« Jetzt versuchte sie, Betty mit ihrem Körper in Richtung zweier freier Nischen zu schieben.
Betty blieb abrupt stehen und hätte die Alte damit fast zu Fall gebracht. Wo war sie? Wo war der Ausgang? Musste sie um die nächste Ecke biegen, um ihn zu erreichen, oder lag er direkt vor ihr? Sie taumelte und musste sich an einem geschnitzten Pfeiler festhalten.
Sie schloss die Augen. Plötzlich dachte sie an Francis. War er hier? Sie konnte seine Gegenwart fast körperlich spüren. Sie spürte seine Hände, die ihr einen Schal um die Schulter legten, seine Arme, die sie hielten, als sie das Gleichgewicht zu verlieren
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