Die Teeprinzessin
kommen kann. Oder nein, sagt ihr, dass ich meine große Schwester unerwartet wiedergetroffen habe und daher dem Unterricht fernbleibe!«
»Schwester oder Nanny, was denn nun?«, murmelte einer der Jungen, floh dann aber vor der Kälte ins Innere des Schulgebäudes.
Betty wusste nicht, ob die Fahrt mit der Kutsche lang war oder kurz. Sie wollte Didi fragen, wie es ihm in den beiden Jahren in der Neuen Welt ergangen sei, aber seltsamerweise hielt er den Finger an seine Lippen und hielt sie nur in Decken eingewickelt in seinem Arm. »Wenn Sie uns zu Hause abgeliefert haben, fahren Sie sofort zu Doc Steinbier und holen ihn…!«, befahl Didi dem Kutscher.
»Aber ich bin doch nicht krank!« Betty spürte selbst, dass kaum ein Ton über ihre Lippen kam, es fiel ihr schon schwer genug, sie überhaupt zu bewegen. Waren sie auch gefroren? Konnte Didi sie hören? Hörte sie überhaupt noch jemand? »Meine Dienerin wartet auf mich. Sie heißt Sikki. Wir haben ein Zimmer in Five Points bei der Witwe Charlton. Daher kann ich nicht mit dir kommen, Didi. Danke für die Einladung. Es hat mich sehr gefreut. Ich muss jetzt leider gehen!«
»Sie fantasiert«, sagte eine Stimme hoch über ihr. »Sie hat hohes Fieber.« Fast klang es, als ob die Stimme von einem Berg herabsprach. Aber gab es Berge in Manhattan? Und ein Echo? Sie war so müde. Sie würde die Augen zumachen. Ganz kurz nur, für einen kleinen Schlummer.
»Sie schläft schon seit sechs Tagen«, sagte die gleiche Stimme nun. »Der Doktor kommt zwei Mal am Tag, aber er sagt immer nur, dass wir abwarten müssen. Vielleicht sollten wir einen anderen Doktor rufen.« Die Jungenstimme klang rau, so als ob der Junge gleich anfangen würde zu weinen.
»Aber das ist ja schon der dritte Doktor«, entgegnete eine Männerstimme. »Die junge Frau ist völlig entkräftet, wir müssen Geduld mit ihr haben.«
Betty schluckte. »Kann ich bitte etwas Wasser bekommen?«
Einen Moment lang geschah gar nichts. Dann aber brach der Jubel los. Betty öffnete die Augen. Um ihr Bett herum war offenbar Didis komplette Familie versammelt. Sie sah einen Mann mit grauen Schläfen und einem Kugelbauch. Das musste Didis Vater sein. War er nicht Bonbonkocher gewesen? Die beiden Mädchen in den dunkelgrünen Samtkleidern waren offenbar Didis Schwestern. Und die beiden Jungen, die sich darüber unterhielten, ob sie auf Bettys Bett springen sollten, mussten seine kleinen Brüder sein.
»Willkommen in Uptons’ House«, rief der Vater. »Unser Heim soll auch Ihr Heim sein! Wundern Sie sich nicht über den Namen, falls Sie uns überhaupt als die Untersteiners kannten. Wir haben hier Upton daraus gemacht. Der andere Name klang so armselig. Und jetzt schmatzt die ganze Stadt unsere Uptons Sweets. Ich habe mich seit Langem gefragt, ob mein Junge unsere Wohltäterin aus Hamburg wohl noch einmal wiederfinden mag. Aber er kannte ja nur Ihren Vornamen, Betty, nicht wahr? Und dass Sie bei einer Familie Tollhoff gearbeitet hatten, das wusste er. Meine Töchter haben Ihnen vor einem Jahr einmal einen Brief geschickt, weil wir uns alle bei Ihnen bedanken wollten, aber zurück kam nur die knappe Mitteilung, dass Sie... nun ja...« Didis Vater druckste ein wenig
herum und errötete dabei sogar. »Viele Hausmädchen sollen sich in dieser Zeit in Hamburg umgebracht haben. Davon hat man sogar hier in der Zeitung gelesen. Ja, und so hieß es dann, dass Sie wohl eine von denen gewesen wären.« Er rieb seinen kurzen grauen Schnauzbart. »Ja, jetzt erinnere ich mich. Man habe Sie sogar noch zu einer anderen Familie geschickt, hieß es. Um Sie wieder auf die rechte Bahn zu bringen!« Er lachte verlegen. »Wir alle haben aber immer geglaubt, dass Sie noch leben und dass Ihnen nur übel nachgeredet wird, so wie es den ganz Besonderen unter uns manchmal geschieht. Und wir haben gehofft, dass wir es noch einmal wiedergutmachen könnten, dass Sie uns damals unser Startkapital zurückgeholt haben.« Er machte eine fahrige Handbewegung, so als wolle er ihr drau ßen vor dem Fenster etwas Besonderes zeigen, aber Betty sah trotzdem, dass Tränen in seinen Augen schimmerten.
Während der folgenden Tage hatte Betty zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, dass es jemanden gab, der sie wirklich mochte. Didi und seine kleinen Geschwister waren rührend um sie besorgt. Grete und Ria, die Zwillingsschwestern, schleppten ihre Puppen und bergeweise seidener Puppenkleider in Bettys Schlafzimmer, lasen ihr aus der Zeitung vor
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