Die Teeprinzessin
und kochten ihr heiße Schokolade, die in einem winzigen goldenen Puppenservice aufgetragen wurde. Die beiden kleinen Brüder, die noch nicht zur Schule gingen, beschränkten sich meist darauf, Betty mit großen Augen anzusehen und sich unvermittelt an sie zu drücken, wenn sie glaubten, dass keiner der Bediensteten es sah.
Das Zimmer, in dem Betty schlief, war mit feinsten roséfarbenen Tapisserien ausgekleidet, vor den bodentiefen Fenstern hingen dicke samtene Portieren, und draußen erstreckte sich ein kleiner grüner Park, über dem meist die Schneeflocken
tanzten. Mehrfach am Tag erschien ein Dienstmädchen in schwarz-roter Tracht, knickste und entfachte das Feuer in dem großen Kamin. Auch der Doktor schien mit Bettys Genesung zufrieden zu sein. Ein wenig zu ernst sei sie, fand er. Und an die frische Luft müsse sie gehen, sobald sie sich besser fühlte. Einer der beiden Hausdiener, der aus der Schweiz kam, wurde angewiesen, täglich ein Täubchen für Betty von den Dächern zu schießen. Daraus kochte Ann, die Köchin, jeden Tag aufs Neue die immer gleiche Kraftbrühe. Betty hatte die dunkle glänzende Brühe, die immer auch mit einem Schuss Portwein abgeschmeckt wurde, nach kurzer Zeit über, löffelte sie aber trotzdem brav aus.
Am Ende der ersten Woche erschien eine junge Dame in ihrem Zimmer, die sich als Madame Mona vorstellte. Sie sei Modellschneiderin. Betty hatte noch niemals zuvor davon gehört, dass es auch weibliche Schneider gab, freute sich jedoch sehr, als Madame Mona ihr eine komplette Garderobe anmaß und schließlich auch noch eine Kürschnerin und eine junge Korsettschneiderin kommen ließ, die ihr einen fellgefütterten Mantel mit einer großen Kapuze und sechs, wie sie es nannten, leichte Mieder anfertigen sollte. Mister Upton nämlich habe angeordnet, dass »das Kind«, wie er sie offenbar genannt hatte, vor allem warm angezogen sein müsse und bequem , weil sie es ja so schwer gehabt habe. Die drei Damen schmunzelten darüber und rieten Betty dennoch zu engeren Miedern.
Nach einigen Tagen, als alle Kleider fertig waren, durfte Betty zu den Mahlzeiten aufstehen und mit den Uptons im großen Speisesaal dinieren. Während der ersten Tage redete Didi fast ununterbrochen, so sehr freute er sich. In Bettys Krankenzimmer hatte man den Halbwüchsigen offenbar aus lauter Sittsamkeit kaum gelassen, nun aber ging ihm fast das Herz über, und er musste Betty alles erzählen, was er in der
Stadt erlebt hatte. Allein ihre Ankunft war ein Abenteuer gewesen. Während sie die ersten drei Nächte noch in einer Notunterkunft außerhalb von Battery Park verbracht hatten, dauerte es keinen Monat, bis ihr Vater zuerst eine große Wohnung und dann sogar bereits dieses Haus für sie hatte kaufen können.
Von seiner Schule war Didi restlos begeistert. Kaum einer der Jungen hatte ihm und seiner Herkunft gegenüber Dünkel, mit den meisten hatte er schnell Freundschaft geschlossen, denn auch ihre Eltern waren erst seit einigen Jahren in der Stadt und keinesfalls seit Generationen.
Nach und nach erfuhr Betty, dass Hansl Untersteiner fast zeitgleich mit seiner Verwandlung in einen gewissen Jack Upton sein Glück gemacht hatte. Schon auf dem Schiff in die Neue Welt war er einem Kesselschmied begegnet, der einen riesigen, mit Dampf betriebenen Rührautomaten erfunden hatte. Zumindest auf dem Papier. Gebaut hatte er ihn noch nicht, und er wusste nicht so recht, was er in diesem Kessel rühren könnte. Aber Untersteiner wusste es. Er wollte darin riesige Mengen von Bonbons kochen. Ein anderer Mitreisender, dessen Frau nachgerade süchtig nach Naschwerk war, hatte auf Druck seiner Frau zugestimmt, anstelle des anvisierten Milchhandels lieber einen Großhandel zu eröffnen und die Rohstoffe für Sahnebonbons zuzuliefern. Ein vierter schließlich, ein junger Maler mit künstlerischen Ambitionen und einer Frau mit vier schreienden Kleinkindern, hatte die Einwickelpapiere für Uptons Sweets entworfen. Reich geworden waren sie alle vier. Jetzt lebte Jack Upton mit Didi und seinen Geschwistern in einem fast schon feudalen Haus an der Madison Avenue und hatte mehr Geld, als er ausgeben konnte. Er hatte sogar begonnen, die begehrten Süßigkeiten nach Europa zu exportieren. Nachfrage gab es genug. Vor allem, da seine Mitarbeiter eine Methode entdeckt hatten, wie man die feinen Karamellbonbons
nun auch noch mit Kakao überziehen konnte, der in Deutschland in dieser Form kaum bekannt sei. Die ersten Schiffe mit Ware seien
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