Die Teeprinzessin
Sie sollten trotzdem nicht mehr so traurig sein. Sie müssen Darjeeling hinter sich lassen und es nur in Ihrer Erinnerung einrahmen. Darjeeling muss für Sie so werden wie eines dieser Landschaftsgemälde in den Salons der Engländer. Die kennen Sie doch?« Sie lächelte. »Ich selbst werde Darjeeling auch nicht mehr wiedersehen, aber es macht mich nicht traurig. Es macht mich glücklich, dass ich dort eine wunderschöne Zeit hatte und dass ich Ihnen begegnet bin.« Sie zögerte. »Zwar wurde ich nur dafür ausgebildet, eine Dame zu baden und schöne Gespräche mit ihr zu führen, aber ich bin auch damit zufrieden, Ihnen und Ihrem Tee jetzt um die Welt zu folgen. Ich habe mein Schicksal angenommen.«
Betty wusste selbst nicht, wie es kam, dass sie plötzlich lächeln musste. Vielleicht war dies der Moment, an dem sie endlich erwachsen wurde.
5
Das winterliche Morgenlicht drang durch raumhohe Schei ben. Es war hier drinnen fast so kühl wie draußen, obwohl die dicken Mauern des Battery Park gebaut worden waren, um sogar Geschützen standzuhalten. Der Offizier in dem Verwaltungsgebäude sah sie verwundert an. »Aber Sie können von hier aus keinen Tee verschiffen, Miss. Sie benötigen dafür eine
Zollerklärung über die Einfuhr des Tees.« Er grinste und eine dunkle Locke fiel ihm vor die Augen. »Der Tee wird ja nicht hier bei uns in New York gewachsen sein, oder? Obwohl...«, er sah Betty schelmisch an, »obwohl man ja hört, dass im neuen Central Park künftig Pflanzen aus aller Herren Länder wachsen werden. Aber ob Tee dabei sein wird? Und gleich so viel? Und ob man ihn ernten darf?«
»Tee wird nicht geerntet, er wird gepflückt«, entgegnete Betty patzig. »Ich weiß es, denn ich war selbst in Darjeeling, und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Teeblätter vorsichtig von den Zweigen gezupft werden. Mein Tee ist so wertvoll, dass die Arbeiterinnen ihn mit weißen Handschuhen pflückten.« Sie schlang ihr Schultertuch enger um sich und presste die Lippen aufeinander, wie sie es jetzt häufiger tat, um das Klappern der Zähne zu verhindern. Sie stellte die Füße gerade nebeneinander. Das war auch gut gegen das Frieren. Und zudem verschwanden sie dann unter dem Rock, und niemand konnte sehen, dass sie keine Strümpfe mehr besaß, die sie anziehen konnte, und dass der linke Schuh am Zeh ein Loch hatte.
Der Offizier schüttelte den Kopf. »Das ist natürlich sehr interessant, junge Lady, obwohl ich Darjeeling, offen gestanden, eher als Sommerquartier der Engländer kenne. Liegt doch in Indien, nicht wahr? Sind Sie sicher, dass Sie da nicht etwas verwechseln?«
Betty schüttelte wütend den Kopf. »Ich verwechsele nichts, und ich weiß genau, was ich möchte: nichts anderes, als mich mit dieser Teeladung nach Europa einzuschiffen!«
»Das habe ich verstanden.« Der Offizier nickte ihr freundlich zu. »Es wird nicht ganz leicht sein, ein Schiff zu finden, das im Februar über den Nordatlantik fährt, aber wenn Sie es so wünschen... Bringen Sie mir die Zollpapiere von der Einreise und Sie bekommen die Ausfuhrgenehmigung!«
»Aber ich habe Ihnen doch gesagt, dass jeder meiner chinesischen Freunde sieben Pfund für mich eingeführt hat! Daher habe ich keine besonderen Papiere. Ich bin mir ganz sicher, dass ich nach Recht und Gesetz handele. Warum sonst hätte ich denn meinen Tee hierherbringen lassen?« War das hohle Gefühl in ihrem Bauch die Wut oder der Hunger oder die brisante Mischung aus beidem?
Der Offizier ließ seinen Stift auf den Tisch fallen. »Ich frage mich ehrlich, ob das nicht bereits ein Zollvergehen war. Denn so kann diese Einfuhrbestimmung natürlich nicht ausgelegt werden.« Er zögerte. »Dann hätten Sie sich bereits strafbar gemacht. Tun Sie sich bitte selbst einen Gefallen, junge Lady, und gehen Sie jetzt nach Hause, bevor ich Sie wie eine Schmugglerin behandeln muss. Ihre Ware bleibt 100 Tage lang in einem versiegelten Lagerhaus unten am Hafen, oder so lange, bis Sie die Einfuhrpapiere beigebracht haben, danach wird der Tee auf dem freien Markt von New York versteigert!«
»Aber das geht nicht!«, rief Betty. »Ich muss den Tee zurückhaben. Dann kann ich ihn wenigstens verkaufen! Ich habe sonst keine finanziellen Mittel!«
Der Offizier jedoch hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Er hatte sich bereits dem nächsten Bittsteller zugewandt, einem jungen Mann, der um die Erlaubnis bat, einen Zuchtbullen aus England nach Amerika einführen zu dürfen, und der innerhalb weniger Momente
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