Die Teeprinzessin
ebenfalls abschlägig beschieden wurde.
Es war ein weiter Weg von Battery Park nach Five Points, wo Sikki und sie ein kleines ungeheiztes Zimmer zur Untermiete gefunden hatten. Eine Million Einwohner sollte diese Stadt jetzt schon haben, erzählte man sich. Betty hatte den Eindruck, dass ihr die meisten davon an diesem kalten Wintertag auf der Straße entgegenströmten. Das Gedrängel war besonders vor den Geschäften riesig. Betty war froh, dass sie zumindest
den Duft der frisch gebackenen Brote nicht roch, sondern nur sah, wie sie dampften, wenn die glücklichen Käufer sie in ihre Tragekörbe steckten.
Ihre Füße schmerzten bei jedem Schritt. Der Zeh, der durch den zerschlissenen Schuh herausschaute, war bereits blau angelaufen. Das Kälteste an ihr aber war ihre Nasenspitze. Ihr restlicher Körper nahm das Gefühl von Kälte kaum noch wahr.
Eine schwarze Kutsche kam die Straße entlanggejagt, Menschen stoben auseinander und sprangen in die Rinnsteine, dann hielt die Kutsche vor einem großen grauen Gebäude. Zwei kleine Jungen in langen grauen Wollmänteln, die mit schwar zem Pelz verbrämt waren, stiegen schwerfällig aus dem Wagen und wurden von einer dick bestrumpften Gouvernante in Empfang genommen, die sie sogleich ins Innere der Schule führte. »Manhattan Atlantic and German School für Boys«, las Betty über dem Eingang. Das war anscheinend eine Schule, an der auch die deutsche Sprache unterrichtet wurde. Vielleicht würden hier Frauen gebraucht, die gut Deutsch konnten? Vielleicht konnte sie hier nach einer Arbeit fragen?
Eine weitere Kutsche fuhr vor, und eine Gruppe von Jun gen stieg aus, die schon etwa zwölf Jahre alt sein mussten, denn sie trugen bereits lange Hosen. Viel älter waren sie jedoch sicherlich nicht, denn sich balgten sich, sobald die herbeigeeilte Gouvernante sie nicht im Blick hatte, zogen einander an den dicken Biberkragen ihrer Schuluniformjacken und knufften sich mit ihren Bücherpaketen, die sie an langen Lederriemen über den Schultern trugen. Ein Junge spuckte auf den Boden, so wie er es bei seinem Vater gesehen haben mochte. Vielleicht konnte Betty helfen, die Schule sauber zu halten, überlegte sie. Sie wäre sich dafür nicht zu schade. Im Inneren der Schule wurde eine Glocke geläutet. Die Jungen stürmten wie auf Kommando auf die Treppe zu und hätten Betty fast
umgerannt. Betty sprang zur Seite und murmelte eine Entschuldigung.
In diesem Augenblick blieb der größte der Jungen plötzlich stehen.
Betty senkte die Augen. Es war sicherlich nicht gut, wenn sie Ärger mit einem der Schüler hatte, bevor sie hier um eine Stellung nachsuchte. Sie duckte sich etwas und strebte auf die Hausmauer zu. Sie würde einfach still ihrer Wege gehen, das wäre sicher das Beste.
»Betty?« Die Stimme war die eines Heranwachsenden im Stimmbruch. »Bist du es wirklich?« Der Junge lachte fröhlich. »Ja, ich kann es an deinen Augen sehen. Du bist es!«
Betty sah in ein offenes freundliches Gesicht, das all seine Molligkeit verloren hatte. »Didi? Wie ist das nur möglich?« Konnte es sein, dass der kleine Didi, dessen Familie in Amerika ihr Glück machen wollte, wirklich zu so einem hübschen und wohlhabenden Jungen herangewachsen war? Oder spielte die Kälte bereits Schabernack mit Betty? Ihre Vermieterin hatte sie vor dem Erfrieren gewarnt und es zugleich in den höchsten Tönen als die schönste aller Todesarten geschildert. Es sei, als ob man sanft einschliefe. Und dann gingen alle vergessenen Wünsche in Erfüllung. Man träfe sogar noch einmal die Menschen wieder, die man gemocht hatte.
»Erkennst du mich denn nicht wieder, Betty? Du hast uns damals das Geld von diesen Ganoven zurückgeholt, als mein Vater es verspielt hatte!«
Betty nickte. »Didi! Wie groß du geworden bist. Und wie froh du aussiehst. Das freut mich von Herzen!« Bildete sie sich das nur ein oder wurde ihr bereits ein wenig wärmer?
»Warum legst du der Landstreicherin deine gute Schuljacke um die Schultern, Didi?«, wollte nun einer der Jungen wissen. »Kennst du sie? War sie früher einmal deine Nanny?«
Didi hörte gar nicht auf seinen Kameraden. Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff wie ein Straßenjunge. Einige Passanten sahen sich zu ihm um. Aber die Kutsche, die er hatte anhalten wollen, hielt wirklich. Sogar der Kutscher kam herausgesprungen, um Didi eilfertig dabei zu helfen, Betty in die Kutsche zu bugsieren. »Sagt Madame am besten, dass ich heute krank bin und nicht zum Unterricht
Weitere Kostenlose Bücher