Die Teeprinzessin
von dort aus mit der Fähre nach Battery Park fahren. Ich nehme mal an, dass Sie Ihren Tee dort später auch wieder einschiffen müssen.« Er atmete tief ein. »Aber selbst wenn Sie den Zug nach Sandoval noch bekämen, früher in New York wären Sie deshalb wahrscheinlich trotzdem nicht! Der Unterschied ist nur, dass Sie heute Nacht nicht im bequemen Hotelbett schlafen würden, sondern eine Nacht im Zug
verbringen müssten!« Er schüttelte sich. »Ich selbst hatte noch nicht das zweifelhafte Vergnügen. Aber es soll schrecklich kalt sein.«
»Lassen Sie augenblicklich eine Kutsche vorfahren! Und bringen Sie Pferde für meinen Transportwagen. Wir reisen sofort wieder ab!« Betty hörte selbst, wie hart ihre Stimme klang. Sogar Sikki zuckte zusammen. Der Portier jedoch wedelte mit den Händen, rief einen Boy herbei und ließ einen Schwall französischer Befehle auf ihn los. Der Boy flitzte ins Freie, und kurz darauf hörte man schon das Getrappel und das Wiehern der Pferde, die eingeschirrt worden.
»Aber es ist kalt, Miss!«, rief der Portier. »Heute Nacht erwarten wir Schneestürme. Es ist nicht das Wetter für eine Reise nach Osten! Und es ist auch nicht das Wetter, ohne einen Pelz ins Freie zu gehen!«
»Noch weniger aber ist es das Wetter, um hierzubleiben!«, entgegnete Betty und stürmte nach draußen. Die eisige Luft schlug ihr wie eine Wand entgegen. Schon während der letzten Tage hatte sie mit ihrem dünnen Schultertuch oft gefro ren, obschon es in der Kutsche dampfend und stickig gewesen war. Jetzt merkte sie, dass ihre Hände und Füße in den dünnen Schuhen fast erstarrten. Sikki aber ging gleichmütig hinter ihr her und bestieg neben ihr die Kutsche.
Unterdessen hatte eine frühe Dämmerung eingesetzt. Der Kutscher murmelte etwas vor sich hin, holte aber, nachdem er mit dem nun ebenfalls herausgeeilten Portier ein paar Worte gewechselt hatte, sogar eine schwere Decke aus der Box unter seinem Sitz und breitete sie den Damen über die Knie. Dann erkletterte er gemächlich seinen Kutschbock und lenkte die beiden Rösser im Zuckeltrab durch die Stadt bis zum Bahnhof.
Betty wusste nicht, was sie erwartet hatte. Bestimmt aber nicht das. Der ganze Zug war hell erleuchtet, und überall im
Inneren sah man in elegante Mäntel gekleidete Herren, die friedlich an ihren Pfeifen sogen, einander mit kleinen Silberflaschen zuprosteten, oder die sogar von einer Art Kellner bedient wurden.
Bettys und Sikkis Abteil befand sich in der ersten Klasse, und wie es aussah, war es komplett ihnen vorbehalten. Ein Schaffner eilte herbei und erkundigte sich, ob die Damen zusätzliche Decken benötigten und ob sie etwas zu essen wünschten. Kurze Zeit später erschien er erneut und berichtete, dass die Fracht der jungen Lady komplett im Ladewagen verstaut sei und dort von einem schwarzen Boy bewacht würde. Als der Zug sich endlich unter großem Geschnaufe der Lokomotive und nach einem ebenso grellen wie durchdringenden Pfiff in Bewegung setzte und in die Winternacht hineinfuhr, hatte Betty nicht weniger als ein Dutzend Male den Hals gereckt und auf den Bahnsteig gesehen. Doch der Plafond war und blieb menschenleer. Dann endlich ließ sie sich in das schwere grüne Sitzpolster fallen, lehnte außer Wasser jegliche Nahrung ab und starrte in die schwarze Nacht hinaus, vor der sich in den Scheiben der Zugfenster die Gesichter zweier junger Frauen spiegelten. Betty sah selbst, dass sie sich verändert hatte. Ihr Gesicht war schmaler geworden und ihre hochgewachsene Gestalt schien sich etwas gestreckt zu haben. Sie fröstelte und legte die Arme um ihren eigenen Leib. Presste sie gar die Lippen zusammen? Sah sie jetzt so aus wie ihre Mutter auf dem einzigen Bild, das es von ihr gab? Würde sie durchhalten, ihr Ziel verfolgen, den Tee nach Hamburg bringen? Die Entschlossenheit war das einzige Gefühl, das sie in sich spürte.
Auch Sikki schien sie zu beobachten. »So geht es nicht weiter, Miss«, sagte sie schließlich. »Sie sind so ernst geworden. Das hätte Mister Jocelyn nicht gewollt.«
Betty schüttelte sanft den Kopf. Mister Jocelyn, wie fremd
dieser Name bereits in ihren Ohren klang. Doch wie vertraut ihr immer noch sein Vorname war. Francis. Sie wusste nicht einmal, ob er sie nicht bereits vergessen hatte. »Ich glaube, es ist Mister Jocelyn unterdessen egal, was aus mir wird«, antwortete Betty.
Sikki seufzte und breitete eine der weichen Decken aus der Ablage über Betty. »Der Ansicht bin ich leider auch, Miss. Aber
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