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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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zerlumpten Kleider der Leute darin? Bildete sie sich das nur ein, oder trug der Wind den bitteren Geruch der Armut mit sich?
    Zwei gutgekleidete und wohlgenährte Herren eilten an ihr vorbei und verschwanden im White’s, dem exclusiven Club, vor dem sie jetzt stand. Ihr Schwiegervater, Lord Elgin, der Herzog von Winchester, befand sich darin. Dort speiste er jeden Abend. Das wußte sie von Nick, der ihr gesagt hatte, daß er dort mehr Zeit als zu Hause verbrachte.
    Wenn alles gutging, würde sie ihm gleich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Dann würde alles von ihr abhängen. Von ihrer Fähigkeit zu schauspielern, sicheres Wissen über Geld, Märkte und die Gewohnheiten englischer Investoren vorzutäuschen und einen Mann reinzulegen, der eine der mächtigsten Banken in England leitete, einen Mann, der in Finanzdingen ausgefuchster war, als sie es jemals sein könnte. Wie um alles in der Welt sollte sie das anstellen? Sie hatte Angst zu versagen, nachdem so viel auf dem Spiel stand.
    Ein Windstoß hob ihre Röcke. Sie strich sie glatt. Der Diamant, den Nick ihr einst geschenkt hatte, blitzte auf. Nick. Wie sehr sie doch wünschte, er wäre hier. Sie brauchte ihn jetzt. Ein noch stärkerer Windstoß fegte gegen sie. Er fühlte sich an wie eine Hand auf ihrem Rücken, die sie vorwärts schob. Plötzlich – wie damals, als Teddy ihr Nicks Testament vorgelesen hatte – hatte sie das Gefühl, daß Nick bei ihr war. Daß er von Paris oder wo immer seine Seele sich jetzt befand herbeigeflogen war, um ihr beizustehen, sie zu unterstützen. »Na los, altes Haus«, hörte sie ihn sagen, »drisch ihn windelweich!« Das gab ihr den Mut, den sie brauchte, um die Stufen des Clubs hinaufzusteigen.
    Ein Kellner trat ihr im Foyer entgegen. »Tut mir furchtbar leid, Madam«, sagte er schroff, »aber das ist ein Privatclub. Nur für Herren.«
    Fiona sah ihn an, als wäre er ein abstoßendes Insekt. »Ich bin die Vicomtesse Elgin«, erwiderte sie hochnäsig, und der Titel glitt ihr über die Zunge, als benutzte sie ihn täglich. »Der Herzog von Westminster ist mein Schwiegervater. Ich muß ihn sofort sprechen. Es handelt sich um einen Notfall, eine Familienangelegenheit.«
    Der Kellner nickte eingeschüchtert. »Einen Moment, bitte«, erwiderte er und lief eine teppichbelegte Treppe hinauf, an Bildern mit englischen Landschaftsszenen vorbei.
    Fiona holte tief Luft. So weit, so gut. Ihren ersten Auftritt hatte sie gut gespielt, der nächste wäre schwieriger. Als sie auf die Rückkehr des Kellners wartete, fielen ihr wieder Roddys Abschiedsworte ein. »Sei vorsichtig, Mädchen, sei verdammt vorsichtig. Ich hab erlebt, daß Leute wegen einem Pfund umgebracht wurden, ganz zu schweigen von ein paar hunderttausend.« Sie versprach es ihm. Roddy hatte so viel für sie getan. Ohne ihn wäre sie jetzt nicht hier, stünde ihr kühner Plan nicht kurz vor dem Erfolg. Auch er hoffte darauf. Sie durfte nichts vermasseln.
    Der Kellner erschien wieder. »Der Herzog empfängt Sie. Folgen Sie mir bitte.« Er führte sie die Treppe hinauf in einen privaten Raum. Die Tür fiel hinter ihr zu, sie war allein. Das dachte sie zumindest, bevor eine kalte, schneidende Stimme erklang und sagte: »Sie besitzen eine Menge Unverfrorenheit, Miss Finnegan.«
    Fiona sah ihn an. Er stand hinter einem Schreibtisch am anderen Ende des Raums, ein gedrungener, fülliger Mann in einem schwarzen Abendjackett. Sein Gesicht war äußerst unattraktiv, abgesehen von den leuchtend türkisfarbenen Augen.
    »Elgin. Mrs. Nicholas Elgin«, sagte sie. »Das steht zumindest auf meiner Heiratsurkunde. Ich nenne mich aber Soames. Mein verstorbener Mann hat das vorgezogen.«
    »Darf ich fragen, warum Sie mich während meines vorzüglichen Dinners stören?«
    Fiona nahm ein Exemplar des Clarion aus ihrer Tasche und warf es auf den Schreibtisch.
    »Dieses Blatt ist mir nicht vertraut«, sagte der Herzog und warf einen angewiderten Blick darauf.
    »Ihnen vielleicht nicht«, erwiderte Fiona, »aber den Herausgebern aller großen Zeitungen der Stadt. Ich glaube, es wäre in Ihrem Interesse, wenn Sie die Titelgeschichte läsen.«
    Er beugte sich über den Schreibtisch. Sie sah seinen Blick über die Schlagzeile streifen. TEEHÄNDLER UNTER MORDANKLAGE AN GEWERKSCHAFTSFÜHRER. Und darunter: WILLIAM BURTON VON POLIZEI VERNOMMEN. Er blätterte um und las den Artikel. Für den Bruchteil einer Sekunde strich Erschrecken über sein Gesicht. Es verschwand so schnell, wie es gekommen war,

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