Die Teerose
dunkel und still in der Gasse, und nach zwanzig Metern kam Fiona der Gedanke, daß es vielleicht doch keine so gute Idee war, die Abkürzung zu nehmen. Sie erinnerte sich, wie sehr sie sich gefürchtet hatte, als der schreckliche Sid Malone sie angefallen hatte. Was, wenn er sie auf dem Markt gesehen hatte und ihr gefolgt war? Und dann gab es auch noch Jack the Ripper, der vor drei Wochen in einer Nacht zwei weitere Frauen ermordet hatte – Elizabeth Stride in der Berner Street und Catherine Eddowes am Mitre Square. Man redete von nichts anderem mehr. Fiona hatte der Neuigkeit keine große Aufmerksamkeit geschenkt – sie hatte um ihren Vater getrauert –, aber jetzt fiel ihr alles wieder ein. Weder die Berner Street noch der Mitre Square waren besonders weit von der Barrow Street entfernt. Jack war noch nicht verhaftet worden. Er konnte überall sein. Niemand würde sie hören, wenn sie schrie und … ach, hör auf damit, tadelte sie sich. Sei nicht albern. Auf dem Weg bist du in zehn statt in zwanzig Minuten zu Hause.
Sie zwang sich, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Sie dachte an ihre neuen Nachbarn. Da gab es Frances Sawyer auf der einen Seite, die Charlie zufolge eine Prostituierte war, und Mr. Hanson auf der anderen. Mr. Grabscher, wie Fiona ihn nannte. Er war schrecklich: Mit lüsternen Blicken und den Hände zwischen den Beinen versuchte er, sie und die anderen Frauen durch die Ritzen in der Toilette zu beobachten. Zumindest waren die Leute, mit denen sie sich das Haus teilten, anständig.
Es war schwer, so eng mit fremden Menschen zusammenzuwohnen. Sie mußten eine bessere Wohnung finden, aber dafür brauchten sie mehr Geld. Da sie nicht einfach dasitzen und auf den Scheck von Burton Tea warten wollte, hatte sich Fiona nach Wochenendarbeit in den umliegenden Geschäften umgesehen. Sie hatte noch kein Glück gehabt, aber ein paar Ladeninhaber hatten sich ihren Namen notiert. Ihre Mutter hatte angefangen, Heimarbeit zu machen, und fertigte seidene Weihnachtssterne für Christbaumschmuck. Auch Charlie half mit. Manchmal, wenn sie dachte, sie hätten nur Geld für Brot und Margarine, kam er mit ein paar Shilling daher – seinem Preisgeld –, und sie konnten sich Buletten oder Fisch und Chips leisten.
Tief in Gedanken versunken, hörte Fiona etwa auf halbem Weg die Barrow Street hinunter plötzlich Schritte hinter sich. Das hat nichts zu sagen, redete sie sich schnell ein, bloß ein anderes Mädchen, das wie sie vom Markt nach Hause ging. Aber eine innere Stimme sagte ihr, daß die Schritte für ein Mädchen zu schwer waren. Na schön, dachte sie, es klingt nicht so, als wären sie schon sehr nahe. Doch erneut flüsterte die innere Stimme, daß das am Nebel liegen konnte. Er dämpfte die Geräusche und ließ sie weiter entfernt erscheinen, als sie tatsächlich waren. Fiona drückte ihre Einkäufe an sich und ging schneller. Das gleiche taten die Schritte hinter ihr. Wer immer hinter ihr war, verfolgte sie. Sie begann zu rennen.
Durch den Nebel konnte sie das Ende der Gasse nicht erkennen, aber sie wußte, daß es nicht fern war. Dort wird jemand sein, sagte sie sich, jemand wird mir helfen. Inzwischen rannte sie die Gasse hinunter, aber die Person hinter ihr kam immer näher. Die Schritte wurden lauter, und plötzlich wußte sie, daß sie es nicht schaffen würde. Von Todesangst gepackt, drehte sie sich um. »Wer ist da?« rief sie.
»Scht, hab keine Angst«, antwortete eine Männerstimme. »Ich tu dir nichts. Mein Name ist O’Neill. Davey O’Neill. Ich muß mit dir reden.«
»Ich … ich kenn Sie nicht. B-Bleiben Sie mir vom Leib«, stammelte sie. Sie versuchte, wieder zu laufen, aber er hielt sie fest. Sie ließ ihre Einkäufe fallen und versuchte zu schreien, aber er hielt ihr den Mund zu.
»Nicht!« zischte er. »Ich hab doch gesagt, ich muß mit dir reden.«
Sie sah in seine Augen. Sein Blick war verzweifelt. Er war verrückt. Er war der Ripper. Ganz sicher. Und er würde sie auf der Stelle umbringen. Entsetzt stöhnte sie auf und kniff die Augen zusammen, weil sie sein scheußliches Messer nicht sehen wollte.
»Ich laß dich los, aber renn nicht weg«, sagte er. Sie nickte. Er ließ sie los, und sie öffnete die Augen. »Tut mir leid, daß ich dich erschreckt hab«, fuhr er fort. »Ich hab auf dem Markt mit dir reden wollen, mich aber nicht getraut. Man weiß ja nie, wer einen beobachtet.«
Wieder nickte sie und versuchte, ruhig zu bleiben. Versuchte, ihn ruhig zu halten. Sie hörte
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