Die Teerose
kaum, was er sagte, es ergab keinen Sinn. Er war offensichtlich ein Verrückter, aber auch Verrückte konnten gefährlich sein. Sie durfte ihn nicht reizen.
Der Mann sah in ihr erschrockenes, verständnisloses Gesicht. »Kennst du mich nicht? Ich bin Davey O’Neill … erinnerst du dich nicht?«
Plötzlich dämmerte ihr, daß sie ihn kannte, oder besser gesagt, seinen Namen gehört hatte. Bei der polizeilichen Untersuchung. Er war derjenige, der das Öl verschüttet hatte, auf dem ihr Vater ausgerutscht war.
»D-doch. Aber …«
»Sie haben mich für Paddys Unfall verantwortlich gemacht, aber ich war’s nicht. Ich hab die Winden geschmiert, wie Curran es mir aufgetragen hat, aber ich hab nichts verschüttet. Ich hab alle Gewinde abgewischt, damit nichts runtertropft, wie ich’s immer mach. Als ich fertig war, war nirgendwo Öl. Das schwör ich!«
»Aber wenn Sie’s nicht waren … wie …?«
»Ich hab einfach jemandem sagen müssen, daß es nicht meine Schuld gewesen ist. Manche wollen gar nicht mehr mit mir reden. Du bist Paddys Tochter, dir hab ich’s sagen müssen.« Er sah sich um. »Jetzt muß ich fort.«
»Warten Sie!« Sie packte ihn am Ärmel. »Was wollen Sie damit sagen? Wenn Sie das Öl nicht verschüttet haben, wie ist dann dorthin gekommen? Ich versteh nicht …«
O’Neill riß sich los. »Mehr kann ich nicht sagen. Ich muß los.«
»Nein, warten Sie! Bitte!«
»Ich kann nicht!« Er wirkte wie ein gehetztes Wild. Er schickte sich zum Gehen an, drehte sich dann aber noch einmal um und sagte: »Du arbeitest unten in der Teefabrik, stimmt’s?«
»Ja …«
»Halt dich von den Gewerkschaften fern, verstanden?« Seine Stimme war leise und rauh. »Die Abteilung von Wapping ist aufgeschmissen ohne deinen Vater, aber Tillet will Ersatz finden. Außerdem hört man, daß die Mädchen in den Teefabriken auch organisiert werden sollen. Du hältst dich da raus! Versprich’s mir …«
»Was haben denn die Gewerkschaften damit zu tun?«
»Versprich’s mir!«
»Also gut, ja! Aber sagen Sie mir wenigstens, warum!«
Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Nebel. Fiona wollte ihm nachlaufen, aber sie brachte ihre zitternden Beine nicht dazu, sich in Bewegung zu setzen. Wie sehr er sie erschreckt hatte! Sie mußte sich beruhigen, damit ihre Mutter nichts bemerkte. Sie war vollkommen durcheinander und wußte nicht, was sie von O’Neill und den verrückten Dingen halten sollte, die er gesagt hatte. Offensichtlich hatte er den Verstand verloren.
Aber vielleicht sagte er tatsächlich die Wahrheit. Und wenn das zutraf, warum war ihr Vater dann ausgerutscht? Die Frage flößte ihr ein unbehagliches Gefühl ein. Das gleiche hatte sie sich schon einmal gefragt, als nach der Beerdigung Mr. Farrell und Mr. Dolan sagten, wie seltsam sie es fänden, daß ihr Vater, der in den Docks nie einen Unfall gehabt hatte, zu Tode gestürzt sei. Sie hatte diese Unterhaltung – und ihre eigenen wüsten Spekulationen – als lächerlich abgetan, aber waren sie das wirklich?
Behauptete Davey O’Neill, daß er das Öl nicht verschüttet habe – oder daß es überhaupt kein Öl gegeben habe? Letzteres konnte nicht zutreffen, denn die Polizisten, die den Unfall untersuchten, hatten welches gefunden. Onkel Roddy hatte den Bericht selbst durchgesehen und gesagt, er sei in Ordnung. Was hatte O’Neill noch gesagt? »Manche wollen gar nicht mehr mit mir reden …« Fiona spürte, wie Ärger ihre Angst verdrängte. Jetzt war klar, was vor sich ging – es gab Dockarbeiter, die auf O’Neill sauer waren. Sie machten ihn für den Tod ihres Vaters verantwortlich. Sie zeigten ihm die kalte Schulter, vielleicht hatte er sogar Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Und er wollte, daß sie Partei für ihn ergriff. Sie sollte den Leuten sagen, daß es nicht seine Schuld gewesen sei. Dieser selbstsüchtige Mistkerl! Ihr Vater war tot, ihre Familie kämpfte ums Überleben, und ihm ging’s nur darum, bei seinen Kollegen wieder in gutem Ansehen zu stehen. Als hätte sie keine anderen Sorgen als Davey O’Neills Pechsträhne. Dieser erbärmliche Kerl! Ihr nachzuschleichen und von Gewerkschaften zu schwafeln. Ihr zu raten, sich keiner anzuschließen. Als hätte sie Geld, um es für Beiträge auszugeben!
Mit zitternder Hand wischte sie über ihre Stirn und strich ein paar Haarsträhnen zurück. Immer noch wütend, wünschte sie, sie könnte jemandem erzählen, was passiert war. Charlie würde wissen, was von O’Neill zu halten war, aber
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