Die Teerose
in meinem Zimmer bleiben und du in deinem, und wir könnten weiterleben, wie wir’s immer getan haben. Du müßtest nicht ausziehen.«
Und dann hörte Fiona, wie ihre Mutter zu weinen begann, und Roddys besorgte Stimme: »Ach Gott, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Ich wollte doch nur helfen. Gütiger Himmel, ich bin ein Esel …«
»Nein, Roddy, du bist kein Esel«, sagte ihre Mutter. »Du bist ein guter Mann, und jede Frau wäre froh, dich zu kriegen. Ich wein doch nur, weil ich gerührt bin. Es gib nicht viele auf der Welt, die ihr eigenes Glück für das Wohl anderer opfern würden. Aber du kannst dir nicht die Familie eines anderen aufbürden. Du solltest mit Grace eine eigene gründen. Du bist doch bis über beide Ohren in sie verliebt, das weiß doch jeder, also heirate das Mädchen. Wir kommen schon zurecht.«
Würden sie das? Fiona war sich nicht so sicher. Ständig quälte sie eine innere Stimme, die ihr immer und immer wieder sagte, daß sie zuwenig Geld hatten. Mit ihrem und Charlies Lohn konnten sie kaum die Miete bestreiten, und der Rest reichte bloß noch für Essen.
Immer wenn sie die Hoffnung verließ, griff sie in die Tasche und befühlte den blauen Stein, den Joe ihr gegeben hatte. Sie drückte ihn fest, stellte sich sein Gesicht vor und erinnerte sich an ihren Laden, ihre Träume und das Leben, das sie eines Tages gemeinsam führen würden. Schon bald. Das Geld in ihrer Büchse wurde mehr. Jedesmal wenn er schrieb, war der Betrag höher. In seinem letzten Brief hatte er geschrieben, wenn weiterhin alles so gut liefe, könnten sie über kurz oder lang heiraten. Sie war so glücklich gewesen, aber ihr Glücksgefühl schwand, als sie sich klarmachte, daß sie keineswegs so bald heiraten könnte. Ihre Familie brauchte ihren Lohn. Ihre Mutter wartete immer noch auf die Entschädigung von Burton Tea, die möglicherweise bis zu zwanzig Pfund ausmachen konnte, und damit könnte sie sich eine bessere Wohnung leisten und sich und den Kleinen eine sicherere Grundlage schaffen. Fiona wußte, daß sie nicht daran denken konnte wegzugehen, bevor das Geld kam.
Als sie am Fleischstand vorbeiging, wünschte sie, sie könnte ein schönes Stück Rindfleisch für ihre Mutter kaufen, das sie mit Kartoffeln und Soße zubereiten könnte, aber ihr Budget reichte kaum für Reste, und selbst wenn, hätte sie nichts kochen können. Es gab keinen Herd im Zimmer, nur einen Kamin mit einem schmalen Rost, auf den gerade ein Topf paßte. Sie vermißte die nahrhaften Mahlzeiten, die ihre Mutter immer zubereitet hatte. Statt einem warmen Essen bekam sie jetzt manchmal nur eine Tasse Tee.
Das heutige Abendessen würde mager ausfallen. Sie und Seamie würden Kartoffeln mit Brot und Margarine essen. Butter war zu teuer. Charlie und ihre Ma bekämen das gleiche, allerdings mit Bückling – Charlie, um für die Brauerei bei Kräften zu bleiben, und Kate, weil sie aufgepäppelt werden mußte. Der Husten zehrte sie aus. Sie hustete manchmal so stark, daß ihr Gesicht rot anlief und sie kaum mehr Luft bekam. Vielleicht hatte Charlie morgen ein paar Pennys übrig. Wenn ja, konnte sie ein bißchen billiges Lammfleisch für einen Eintopf kaufen. Damit käme ihre Mutter vielleicht wieder auf die Beine.
Zum Schluß erstand sie einen Laib Brot und ein Viertelpfund Margarine, dann machte sie sich auf den Heimweg. Nebelschwaden legten sich über die orangefarbenen Flammen der Gaslaternen, die ein unheimliches Licht auf die Straßen warfen. Wie ein lebendiges Wesen bewegte sich der Nebel, sank nieder und wirbelte um die Marktstände, verschluckte die Geräusche und verdeckte die Sicht.
Der Nebel ließ sie erschauern. Wenn man durch ihn hindurchging, glaubte man, in ein kaltes, nasses Laken gehüllt zu sein. Ihre Einkäufe waren schwer, sie hatte Hunger, und ihre Beine schmerzten vom langen Stehen während des Tages. Seit sie Mr. Burton erklärt hatte, wie mit weniger Mädchen mehr Arbeit zu erledigen sei, ließ sie Mr. Minton – der sich übergangen fühlte – besonders hart arbeiten und verlangte von ihr, abends die Teeschaufeln zu waschen, die Tische abzuwischen und den Boden zu kehren. Sie war erschöpft, wollte nach Hause und entschied sich plötzlich für eine Abkürzung.
Sie bog von der High Street ab und ging durch die nebelverhangene Barrow Street, eine schäbige Gasse mit verfallenen kleinen Mietshäusern ohne Türen und Fenster. Hier gab es keine Gaslaternen mehr, alle waren zerschlagen. Es war
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