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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Beinamen seinem schwarzen Hut verdankte, war der berüchtigtste Kriminelle von ganz Ostlondon. Es gab kein Bordell, keinen Spielsalon und keine Kampfarena, an der er nicht beteiligt gewesen wäre. Kaibesitzer bezahlten ihn, um ihr Eigentum zu »beschützen«. Pubbesitzer bezahlten ihn, damit ihre Fenster heil blieben. Und diejenigen, die so dumm waren, ihm kein Stück von ihrem Kuchen abzugeben, tauchten, mit dem Gesicht nach unten in der Themse treibend, wieder auf.
    Sheehans Anwesenheit war der Beweis für die Menge des Geldes in der Halle. Er verschwendete seine Abende nicht mit Schmalspurveranstaltungen. Charlie freute sich, daß das Interesse an seiner Person so groß war. Er wußte, daß die Jungs, die Quinn mochte – Boxer, die regelmäßig bei ihm auftraten –, zusätzlich zum Preisgeld einen Anteil der abendlichen Einnahmen bekamen. Deshalb ließ Quinn die unbekannten Boxer zu einem Probekampf antreten, bevor er sie aufnahm. Charlie war entschlossen, einen guten Eindruck zu machen.
    Eine Glocke ertönte. Unter Johlen und Pfiffen traten er und Sid in die Mitte des Raums. Sie streckten dem Schiedsrichter die Hände hin, der sie nach oben drehte, um sicherzustellen, daß sie nichts darin verbargen, dann schickte er sie in ihre jeweilige Ecke an den entgegengesetzten Seiten des Kampfrings.
    Charlie taxierte seinen Gegner. Er kannte ihn. Sein Name war Sid Malone. Er arbeitete in der Brauerei mit ihm. Sid wohnte auf der anderen Seite des Flusses in Lambeth. Er war kein geborener Londoner. Laut Billy Hewson, ihrem Vorarbeiter, war er nach dem Tod seiner Mutter vom Land in die Stadt gezogen. Er hatte keine Familie und keine Freunde. Er war ein Schläger, der immer Streit suchte, doch Charlie hatte nie Schwierigkeiten mit ihm gehabt. Zumindest nicht bis zu dem Tag vor ein paar Monaten, an dem Sid plötzlich Gefallen an Fiona gefunden hatte. Er lud sie in ein Pub ein, und als sie ablehnte, hatte er versucht, sie in eine Gasse zu ziehen. Mit einem einzigen, gut plazierten Schlag hatte sie ihm die Nase gebrochen, was Malone nie verwunden hatte. Er wollte seine Ehre wiederherstellen, und dafür fiel ihm nichts Besseres ein, als ihren Bruder zu Brei zu schlagen. Er war ungefähr von derselben Größe und im gleichen Alter wie Charlie und hatte ebenfalls rotes Haar, war aber nicht so kräftig gebaut. Charlie kannte seinen Stil und glaubte, es mit ihm aufnehmen zu können, aber jeder Boxer, einschließlich Sid, war besser, wenn er zornig war.
    Einige Boxer mußten sich in ihre Aggression förmlich hineinsteigern. Sie brauchten einen Grund – eine alte Rechnung, die zu begleichen war, eine paar Jubelrufe der Menge. Charlie brauchte bloß den Behälter zu öffnen, in dem seine Wut verschlossen war. Er war immer ein guter Kämpfer gewesen, aber in den Wochen nach dem Tod seines Vaters war er noch besser geworden.
    Kämpfen reinigte ihn. Von seinem Zorn, seinen Schuldgefühlen, seiner Hoffnungslosigkeit. Wenn er kämpfte, vergaß er seine sorgenvolle Schwester und seine blasse, müde Mutter. Er vergaß die traurigen Augen seines kleinen Bruders, der ihn stumm tadelte, weil er so wenig zu Hause war. Er vergaß New York und das Leben, das er sich dort aufbauen wollte. Er ging vollkommen darin auf, seinen Gegner zu umkreisen, ihm auszuweichen, das Geräusch seiner bloßen Fäuste zu hören, die gegen das Kinn eines anderen krachten, und den scharfen, stechenden Schmerz zu spüren.
    Der Schiedsrichter trat in die Mitte des Rings und hob den Arm. Die Luft knisterte vor Spannung. Charlie spürte, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten. Die Menge rückte näher, Stimmen feuerten ihn an. Eine Glocke ertönte, und der Kampf begann. Sid war wie eine Marionette. Verletzter Stolz und Zorn trieben ihn an und ließen ihn harte, wütende Schläge austeilen. Charlie zog sich in die Deckung zurück und schaffte es problemlos, Sids Schläge zu parieren. Aus dieser Position konnte er ihn beobachten, seine Kräfte sparen und genau entscheiden, wann er den Mistkerl k.o. schlagen würde.
    »Komm her, du Feigling«, zischte Sid. »Zeig’s mir.«
    Die Zuschauer waren nicht zufrieden, sie wollten mehr Aggression und buhten und schüttelten die Köpfe. Charlie achtete nicht darauf. Er hätte ein Dutzend Schläge landen können, um seinem Gegner die Lippe zu spalten oder ihm ein geschwollenes Auge zu verpassen, aber er wollte ihnen etwas liefern, woran sie sich noch lange erinnern würden. Deshalb hielt er sich zurück und reizte die

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