Die Teerose
wo aus den hohen Fenstern Licht einfiel. Hinter einer langen Holztheke saßen zwei jungen Frauen und tippten schnell, auf einem anderen Schreibtisch standen zwei Telefone, die immerfort klingelten und von einem gehetzt wirkenden jungen Mann abgenommen wurden, der ständig zu der großen Wanduhr hinaufblickte. Überall standen Obst- und Gemüsekisten mit frischen Waren herum, um inspiziert und sortiert zu werden.
Ein Küchenjunge, der gerade mit einem Kuvert unterm Arm eingetroffen war, stand in der Mitte des Raums und weigerte sich, den Umschlag einem ärgerlichen Angestellten zu geben. »Das ist die Speisekarte für die Party«, sagte er trotzig. »Der Chefkoch Reynaud hat gesagt, nur dem Chef persönlich, keinem schäbigen Schreiberling.« Der Angestellte drohte, dem Burschen den Hals umzudrehen. Weder der Mann an den Telefonen noch die Sekretärinnen hoben den Blick. Fiona zweifelte schon, ob sie je ihre Aufmerksamkeit erringen könnte, als sie eine hübsche junge Frau bemerkte, die in der Nähe einer zweiten Treppe, die ins Lagerhaus hinunterführte, mit zwei Trägern sprach. Die Frau reichte ihnen einen langen Bestellzettel, dann wandte sie sich ihr zu. Sie starrte sie einen Moment lang an und sagte dann mit einem seltsamen Ausdruck, der Fiona fast ängstlich vorkam: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich … ich … möchte zu Joseph Bristow.«
Die Frau zögerte. »Tut mir leid, aber er ist nicht da.«
»Sagen Sie, ist Mr. Bristow … ist er aus der Montague Street? In Whitechapel?«
»Ja.«
Fiona spürte ihr Herz klopfen, sie griff in ihre Tasche und nahm eine Visitenkarte heraus. »Darf ich die für ihn dalassen?« fragte sie.
»Natürlich.«
Sie spürte den Blick der Frau auf sich, als sie eine kurze Nachricht auf die Rückseite der Karte schrieb und sie ihr dann reichte. »Wenn Sie so freundlich wären.«
»Gern. Auf Wiedersehen.«
»Ja. Nun … auf Wiedersehen«, antwortete Fiona und fühlte sich unbehaglich und enttäuscht. Dann ging sie zur Treppe und zu ihrem Termin bei Bekins & Brown in der Tavistock Street.
Cathy Bristow starrte der schönen dunkelhaarigen Frau nach, als sie im Treppenhaus verschwand, und sah dann auf die Karte in ihrer Hand. MRS. NICHOLAS SOAMES stand darauf.
Sie ist es. Fiona. Ganz sicher, sagte sie sich. Ihr Gesicht vergißt man nicht so schnell. Obwohl sie sich an meins offensichtlich nicht erinnert, dachte sie ärgerlich. Aber wie alt war ich, als wir uns das letzte Mal sahen? Acht Jahre?
»Cathy!« rief eine Stimme durch den Gang.
»Was ist, Joe?« Sie sah über die Empfangstheke in den Gang. Ihr Bruder lehnte in der Tür seines Büros.
»Ich brauch die Gästeliste für Samstag. Bringst du sie?«
»Sofort«, antwortete sie.
Er verschwand wieder in seinem Büro. Cathy blickte erneut auf die Karte. Das geht dich nichts an, dachte sie, trotzdem las sie die Nachricht. »Lieber Joe, ich bin für ein paar Wochen in London. Ich wohne im Savoy. Würde dich gern sehen. Liebe Grüße, Fiona Finnegan-Soames.«
Sie biß sich auf die Lippe. Du hättest sie aufhalten sollen, sagte ihr Gewissen, du hättest Joe holen sollen. Er wird wütend sein, wenn er rausfindet, was du getan hast. Du kannst sie noch einholen. Lauf ihr nach!
Sie ging zur Treppe, blieb dann aber stehen. Warum? fragte sie sich. Um alte Wunden aufzureißen? Fiona Finnegan ist verheiratet. Mrs. Nicholas Soames steht auf der Karte. Es hat keinen Sinn, ihr nachzurennen. Überhaupt keinen. Und warum will sie ihn sehen? Vielleicht ist sie immer noch böse auf ihn? Vielleicht will sie sich an ihm rächen? Indem sie ihm zeigt, daß sie glücklich verheiratet und nicht verfügbar ist?
Cathy konnte sich den Ausdruck ihres Bruders vorstellen, wenn er die Karte sah. Der Narr würde aufspringen und den ganzen Weg zum Savoy zu laufen. Und nachdem er sie gesehen und sie ihm alles von ihrem wunderbaren Mann und ihrem wunderbaren Leben in New York erzählt hatte, wäre er am Boden zerstört. Cathy liebte ihren Bruder, und es schmerzte sie, die ständige Trauer in seinen Augen zu sehen, die nur verschwinden würde, wenn er sich wieder verliebte. Und das würde nie geschehen, wenn er Fiona traf.
Sie hatte Sally Gordon versprochen, ihr behilflich zu sein, ihren Bruder einzufangen, und sie wollte ihr Wort halten. Die beiden hatten sich bei Jimmys Hochzeit unterhalten und allem Anschein nach gut verstanden. Joe war sehr charmant gewesen, und Sally hatte so verliebt und hübsch ausgesehen. Wie konnte er ihr widerstehen? Sie wären so
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