Die Teerose
euch.«
Aber Tom und Dick liefen bereits die Straße hinunter. Roddy sah ihnen einen Moment nach. Er war so überwältigt von dem unverhofften Geschenk, das ihm gerade in den Schoß gefallen war, daß er den Bericht über die ermordete Prostituierte in seiner Hand, den er eigentlich ins Büro des Superintendenten bringen sollte, ganz vergessen hatte.
Tom hatte recht. Bowler käme sicher an den Galgen. Nicht nur wegen Denny und Janey, sondern auch für Paddy Finnegan. Das war es. Endlich hatte er einen Plan, um Fiona zu helfen. Keinen todsicheren, zugegeben, aber dennoch einen Plan. Er müßte schnell handeln. Bevor die Verhaftung von Stan und Reg publik wurde und Sheehan so weit untertauchte, daß er ihn nie mehr fand.
»Ripton!« rief Roddy.
»Ja, Sergeant?«
»Nehmen Sie ein halbes Dutzend Leute, und bringen Sie Bowler Sheehan her. Drehen Sie jeden Pflasterstein in Whitechapel um, aber finden Sie ihn.«
»Sofort, Sir.«
»Und Ripton …«
»Sir?«
»Machen Sie’ s, bevor die beiden es tun«, fügte Roddy hinzu und deutete mit dem Daumen in Richtung Tür. »Ich brauch ihn heil.«
74
I ch muß schon sagen!« erklärte Neville Pearson und blinzelte durch seine Brillengläser. »Sie sind furchtbar dramatisch, nicht?«
»Es sind die vier Jahreszeiten!« rief seine Frau Charlotte aus. »Verstehst du? Das ist der Frühling, das der Sommer, das der Herbst und das der Winter. Jede Jahreszeit bietet ihre Gaben. Was für eine wundervolle Idee!«
»Sie sind absolut riesig«, sagte Neville. »Mindestens zwanzig auf dreißig Fuß!«
Fiona sagte nichts. Sie drehte sich langsam im Kreis und war überwältigt von der Schönheit der Wandgemälde auf allen vier Seiten von Montague’s Obst- und Gemüsehalle. Sie wußte auch, wer die Bilder gemalt hatte – John William Waterhouse, einer der englischen Präraffaeliten. Nick hatte zwei seiner romantischen Bilder besessen.
Ihr Blick verweilte nacheinander auf jeder Jahreszeit. Der Sommer war eine Brünette, die ein wehendes grünes Kleid trug und, mit Beeren in der Hand, das Gesicht der Sonne entgegengereckt, auf einer Wiese stand. Die Gestalt, die den Herbst symbolisierte, sammelte Birnen in einem Obstgarten. Ihr kupferfarbenes Haar war lang und fließend wie ihr karmesinfarbenes Kleid. Den Winter stellte eine blasse Blondine in einem weißen Gewand dar. Sie stand zwischen Immergrün und trug einen Holunderkranz auf dem Kopf. Der Frühling war ein zartes, dunkelhaariges Mädchen in einem blaßblauen Kleid und tiefblauen Augen. Sie hielt Rosenknospen in der Hand und stand an einem Fluß. Kirschbäume blühten hinter ihr, und aus der schwarzen Erde unter ihren Füßen sproß frisches Grün. Sie symbolisierte nicht die Ernte oder die Ruhepause des Winters, sondern das Versprechen auf zukünftige Dinge.
Wer war auf die Idee gekommen, solche Gemälde in einen Lebensmittelladen zu hängen, fragte sich Fiona. Zweifellos dieselbe Person, die den Boden, mit blauen und grünen Fliesen anstelle der üblichen weißen hatte auslegen lassen. Wer hatte die Kronleuchter und Wandlampen in Lilienform ausgesucht? Wer hatte die Idee, auf der Rückseite der Vitrinen Spiegel anzubringen, um so das Angebot zweimal so groß erscheinen zu lassen? Wer gab dem Personal Namensschilder, wo unter dem Namen »Spezialist« eingraviert war, nicht bloß »Verkäufer«? Wer hatte die Treppe zum Obergeschoß am hinteren Teil anbringen lassen, damit die Kunden auf dem Weg zum Floristen oder zur Tabakabteilung an Myriaden verlockender Waren vorbeigehen mußten?
Wer immer es auch war, er ist ein verdammtes Genie, dachte Fiona. Alles, was er ausgewählt, jede Entscheidung, die er getroffen hatte – angefangen von den Gemälden, den herrlichen Blumenarrangements bis hin zu der kunstvollen Darbietung der exotischen Früchte und Gemüse –, gab dem Ort ein eleganteres Gepräge, erhob es von einer lauten, lärmigen Einkaufshalle in den Rang eines vornehmen, luxuriösen Schlemmertempels. Neville hatte ihr versprochen, sie vorzustellen, sobald er den Mann zu Gesicht bekam – diesen Mr. Barston oder Barton –, er konnte sich noch immer nicht an den Namen erinnern.
»Sieht aus wie Sie, Fiona«, sagte Neville und deutete auf den Frühling.
Fiona sah auf das Gemälde. »Sie ist viel jünger. Und viel hübscher«, antwortete sie.
»Unsinn, Neville hat recht. Sie sieht ganz wie Sie aus, meine Liebe«, beharrte Charlotte Pearson.
Fiona machte eine abwehrende Geste und sagte, sie täuschten sich. Ein
Weitere Kostenlose Bücher