Die Teerose
Abendhimmel lag, verschlug es ihr fast den Atem. Noch nie hatte er so schön ausgesehen.
Langsam stieg sie die Stufen hinab und setzte sich unten, das Kinn auf die Knie gestützt, nieder, wie sie es als Mädchen getan hatte. Sie beobachtete die Boote, die sanft auf der zurückweichenden Flut schwankten, und sah die schwarzen Kräne, die in den dunkelblauen Himmel ragten. Tausend Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind, eng an ihren Vater geschmiegt, hier saß, eine Tüte Chips oder eine Fleischpastete mit ihm teilte, während er auf die stolzen Segelschiffe deutete und ihr erklärte, woher sie kamen und was sie transportierten. Sie erinnerte sich, wie sie mit Joe hier saß, und sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie hier gewesen waren, an den Abend, an dem er ihr Herz gebrochen hatte. Wo sind die Scherben? fragte sie sich. Immer noch hier? Im Sand vergraben?
Sie versuchte, an die anderen, die besseren Zeiten zu denken. Die vielen Male, als sie über ihren Laden geredet hatten, das erste Mal, als er sie geküßt, das erste Mal, als er ihr seine Liebe gestanden hatte. All dies war hier am Fluß geschehen. Sie schloß die Augen, spürte die warme Sommerbrise auf dem Gesicht und hörte das leise Plätschern der Wellen. Genau wie damals als Mädchen beruhigte sie der Fluß, richtete sie wieder auf, belebte sie.
Statt auf die Vergangenheit lenkte sie ihre Gedanken nun auf die Zukunft. Sie mußte jetzt ein neues Unternehmen leiten, neue Märkte erobern. Am Tag nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie eine Versammlung sämtlicher Mitarbeiter einberufen und sich als ihre neue Chefin vorgestellt. Sie erklärte ihnen alles über TasTea und versicherte ihnen, daß sie sowohl über die geschäftliche Erfahrung wie die finanzielle Stärke verfügte, um aus Burton Tea – jetzt TasTea, London – ein stärkeres, besseres und profitableres Unternehmen zu machen, als es je gewesen war. Diejenigen, die bleiben wollten, seien willkommen, erklärte sie, diejenigen, die sich William Burton verpflichtet fühlten, sollten gehen. Was keiner getan hatte.
Es gab viel zu lernen. Über die Firma, über ihren Haus- und Grundbesitz in London und im Ausland und über den englischen und den europäischen Markt. Sie wußte, daß sie umgehend Stuart Bryce herüberholen mußte. Kurz nachdem sie die Firma übernommen hatte, hatte sie ihn angerufen. Noch immer klang ihr seine Stimme im Ohr: »Zum Teufel, Fiona! Was haben Sie getan?« Er war fast durchgedreht, als er erfuhr, daß sie ein ganzes neues Unternehmen zu leiten hatten – mit Büros, einem Kai und einer Plantage in Indien. Sie hatte keinen Zweifel, daß sie nach Übernahme von Burton Tea aus TasTea nicht nur die größte Teehandelsgesellschaft in Amerika, sondern der ganzen Welt machen könnte.
Dieser Gedanke erregte sie so sehr, daß sie ihre Stiefel und Strümpfe abstreifte und auf den schlammigen Kiesstrand hinuntersprang. Sie ging ein Stückchen, dann hob sie eine Handvoll Steine auf und ließ sie so schnell und geschickt sie konnte übers Wasser springen.
»Was meinen Sie, Alf?« fragte Joe und hielt seinem Vorarbeiter eine Schaufel grüne Kaffeebohnen unter die Nase.
Alf Stevens roch daran und nickte dann. »Kein Vergleich zu der letzten Lieferung. Kein Hauch von Moder. Gute, klare Farbe. Glatte Schale. Schöne, frische Ware. Von der Sanchez-Plantage, würde ich sagen. Nördlich von Bogotá.«
»Alf, Sie erstaunen mich immer wieder«, sagte Joe und klopfte dem alten Mann auf den Rücken. Alf war über dreißig Jahre auf dem Morocco Wharf, einem Kai an der Wapping’s High Street, Vorarbeiter gewesen und konnte nicht nur auf Anhieb Land oder Region, sondern auch die Plantage nennen, von der der Kaffee stammte. »Wir haben einen neuen Zulieferer gefunden. Mit Marquez bin ich fertig. Seine letzte Lieferung war reiner Abfall. Am Montag morgen laß ich einen Wagen von der Rösterei rüberkommen.«
»Soll mir recht sein.«
»Gut. Wie läuft’s sonst so? Irgendwelche Schwierigkeiten seit dem Vorfall bei Oliver’s?« fragte Joe und bezog sich auf die Schäden, die an Oliver’s Wharf entstanden waren, nachdem William Burton des Mordes an Patrick Finnegan bezichtigt worden war.
»Nein. Eigentlich nichts.«
Joe spürte ein Zögern in seiner Antwort.
»Was ist?«
»Nichts, Chef. Es ist … albern«, erwiderte Alf verlegen.
»Sagen Sie’s mir.«
»Sie wissen doch, als die Jungs bei Oliver’s eingebrochen sind, haben sie ein paar
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