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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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abzuschätzen. Wenn sie bloß hinauskäme. Gleich nebenan war das Town of Ramsgate. Wenn sie es bis zu dem Pub schaffte, wäre sie in Sicherheit.
    Burton entging ihre Blickrichtung nicht, und er trat zur Seite. »Verschlossen«, sagte er. »Du könntest es über die Treppe versuchen, wenn du meinst, du könntest es schaffen, bevor ich dich kriege. Aber was sollte das nützen? Sie führt nach oben, nicht hinaus. Du würdest alles nur in die Länge ziehen.«
    Verzweifelt sah sie sich um. Es gab keinen Ausweg. Die Seiten des Gebäudes bestanden aus festem Mauerwerk. In der linken hinteren Ecke befand sich Currans Büro. Hoffnung flackerte in ihr auf. Dort konnte sie sich einschließen. Er würde es nicht schaffen, die dicke Eichentür aufzubrechen. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, ging Burton nach rechts, um ihr den Weg abzuschneiden. Sie sah hinter sich. In der Wand zum Fluß waren Luken, aber die waren mit eisernen Vorhängeschlössern gesichert. Auf der rechten Seite war nichts, kein Büro, keine Luken, keine Fenster – gar nichts. Nur ein Enterhaken, den jemand an der Wand hängengelassen hatte, und ein paar Teerechen, die dagegenlehnten.
    Burton kam näher und drängte sie immer weiter an die Wand zurück. Plötzlich spürte sie einen jähen Schmerz am Schulterblatt. Wie ein in die Enge getriebenes Tier versuchte sie, sich an die Wand zu drücken, schaffte es aber nicht. Etwas stach sie, tat ihr weh.
    Der Enterhaken.
    Sie wagte nicht, den Blick zu heben. Den Arm hinter dem Rükken angewinkelt, zwang sie sich, die Hand immer weiter nach oben zu schieben, bis ihre Muskeln brannten vor Schmerz.
    Burton war nur noch zehn Meter entfernt.
    »Ich werde dir die Kehle aufschlitzen und zusehen, wie du stirbst, Mrs. Soames«, sagte er. »Und dann werde ich hier alles niederbrennen.«
    »Damit werden Sie nicht durchkommen. Man wird Sie finden«, sagte sie und bemühte sich, ruhig zu klingen. Ihre Glieder brannten. Wo war der Haken? Wo zum Teufel war er? Gerade als sie dachte, sie würde sich den Arm auskugeln, trafen ihre tastenden Finger auf Metall. Langsam, sagte sie sich. Laß ihn nicht fallen. Laß ihn bloß nicht fallen.
    »Das wird man nicht. In einer Stunde bin ich auf einem Schiff nach Calais.«
    Neun Meter, acht.
    »Hast du gewußt, daß dein Vater nach dem Sturz noch mindestens eine Stunde lang mit gebrochenen Beinen in seinem Blut gelegen hat, bevor jemand seine Schreie hörte?«
    Einen Moment lang verließ Fiona aller Mut, und sie wäre fast umgesunken. Hör nicht auf ihn, befahl sie sich. Hör nicht hin. Sie löste den Haken von der Wand, drehte ihn so lange, bis sie den glatten Holzgriff spürte und das gebogene Eisenteil aus ihrer Hand herausragte.
    Sieben Meter, sechs, fünf.
    »Wenn einem die Kehle durchgeschnitten wird, stirbt man schneller als nach einem Sturz«, sagte Burton. »Aber dennoch geht es nicht so geschwind, wie manche Leute glauben.«
    Sie ballte die Hand zur Faust. Jede Fiber in ihrem Körper war angespannt und bebte vor Angst. Vier Meter, drei Meter, zwei … sie wußte, was als nächstes passieren würde, sie hatte es in ihren Träumen gesehen … Nacht für Nacht, zehn lange Jahre.
    Nur daß sie diesmal nicht schlief.
    Mit einem Schrei schnellte ihre Hand mit dem Haken in die Höhe. Das gebogene Metall bohrte sich in Burtons Wange und riß sie auf. Er brüllte auf vor Schmerz. Sein Messer fiel zu Boden.
    Sie raste an ihm vorbei, lief zwischen Teekisten hindurch und rannte die Holztreppe in den ersten Stock hinauf, dann in den zweiten, wo hoch aufgestapelt neue Kisten standen. Sie vernahm seine polternden Schritte auf der Treppe und hörte ihn im ersten Stock herumbrüllen. Dort unten waren die Teekisten nicht aufgestapelt, weil sie zur Prüfung geöffnet worden waren. Es würde nicht lange dauern, bis er herausfand, daß sie nicht dort war. Schnell lief sie in die Mitte des Raums und versteckte sich hinter einem hohen Berg aus Kisten.
    Und dann war er auf dem Treppenabsatz. »Komm raus!« rief er. »Komm raus, und ich mach’s schnell. Aber wenn ich dich suchen muß, schneid ich dir dein diebisches Herz heraus!«
    Fiona preßte die Hände auf die Ohren und machte sich, gelähmt vor Angst, ganz klein. Es gab keinen Ausweg. Sie hatte die neuen Lukentüren gesehen, und die waren verschlossen. Doch selbst wenn sie offen gewesen wären, hätte sie nicht hinunterspringen können. Unten war der Kai. Der Sturz hätte sie ebenso sicher getötet wie Burtons Messer. Sie konnte nur ein bißchen Zeit

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