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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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verletzt –, aber er fühlte sich tatsächlich schuldig.
    Er fühlte sich zu Recht schuldig, weil er sie bei den Old Stairs verletzt hatte. Aber da war noch ein tieferes, größeres Schuldgefühl – eines, gegen das er ankämpfte. Es kam daher, weil er sie nach dem Tod ihres Vaters allein gelassen hatte und weil er nicht für sie sorgen konnte. Er wollte sie retten, aber wie? Sie konnte ihre Familie nicht verlassen, wie sie ihm erklärte. Und er konnte nicht für alle aufkommen. Wenn er das täte, kämen sie nie zu ihrem Laden.
    War er egoistisch, weil er sich diese Last nicht aufbürden wollte? Er war noch nicht bereit, die Verantwortung eines Familienvaters zu tragen, aber genau das tat er. Er sorgte sich jede Minute um Fiona: Ging sie zu spät am Abend zu Fuß nach Hause? Hatte sie genug zu essen? Hatte ihre Familie genug Geld? Er brachte ihnen Essen mit, wenn er sie besuchte, und steckte vier Shilling in ihre Geldbüchse, wenn keiner hinsah. Er wußte, daß das nicht reichte, aber er hatte keine Ahnung, was er sonst tun sollte.
    Er war jung, auf dem Weg nach oben. Sein Chef mochte ihn, respektierte ihn sogar. Er hatte keine Lust auf all die Sorgen. Er wollte, wenigstens für kurze Zeit, die Freiheit eines jungen Mannes genießen, der seine Arbeit machte, lernte und es in seinem Beruf zu etwas brachte. Er wollte von jemandem wie Tommy hören, daß er klug und talentiert war, und sich in diesem Lob baden. Nur eine Zeitlang. Aber allein der Wunsch danach flößte ihm Schuldgefühle ein. Mein Gott, es war alles zuviel. Eine riesige, erdrückende Last, die er nicht abwerfen konnte, sosehr er sich auch das Gehirn zermarterte.
    Der Kellner kam zurück. Joe nahm sein Glas und ging vom Wohnzimmer auf den Balkon hinaus, um etwas Luft zu schnappen. Die Novembernacht war kühl und klar. Von seinem Aussichtspunkt aus konnte er das Freudenfeuer in Tommys riesigem Hinterhof flackern sehen. Das Lachen eines Mädchens erregte seine Aufmerksamkeit. Er kannte dieses Lachen. Es war Millie. Sie war ein Mädchen, das keine Sorgen kannte und nie kennen würde. Sie war immer lustig, immer fröhlich. Er suchte mit den Augen die Gruppen von Leuten ab, die um das Feuer standen, und fand sie. Sie war schwer zu übersehen, denn sie trug ein umwerfendes Kleid. Er hatte keine Ahnung, was Kleider anbelangte, aber daß es teuer war, erkannte selbst er. Es war aus glänzender mitternachtsblauer Seide, tief ausgeschnitten und eng anliegend. Aber das Verwirrendste daran war das aufgestickte Feuerwerksmotiv. Tausend und abertausend winzige irisierende Glasperlchen waren auf den Rock genäht und bildeten einen großen bunten Feuerregen, der von ein paar kleineren umgeben war. Es sah aus wie ein wirkliches Feuerwerk, das am Nachthimmel explodierte. Das Kleid war das Thema des Abends und Millie der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
    Sie stand neben ihrem Vater und einem Burschen, der im Verkaufslager von Spitalfields für ihn arbeitete. Offensichtlich hatte der Kerl etwas Lustiges gesagt, denn Millie und ihr Vater brachen in schallendes Gelächter aus. Als er sie beobachtete, durchfuhr Joe plötzlich ein Stich der Eifersucht, der Besitzgier. Aber im Hinblick auf wen? Auf Tommy? Auf Millie? Tommy hatte die Hand auf den Rücken des Burschen gelegt, und Joe gefiel das nicht. Ist der genauso gut wie ich? fragte er sich. Besser? Mit Blick auf Millie, die neben ihrem Vater stand, wußte er, daß ganz gleich wer sie bekam, auch den Familienbetrieb bekäme. Offiziell hieß es, daß Harry die Firma übernehmen würde, aber Joe wußte es besser. Harry hatte eine Fahrkarte nach Indien gekauft und würde nächsten Monat abreisen. Wenn dieser Bursche dort Millies Herz eroberte und sie heiratete, würde er Petersons Sohn werden. Und wenn schon, sagte sich Joe, als er zusah, wie Peterson die Gruppe verließ und in Richtung Haus ging. Warum interessierte ihn das plötzlich? Er war bloß hier, bis er sich selbständig machen konnte. Er wandte sich ab und nahm sich eine der geräucherten Austern auf Toast, die ein Kellner auf einem Tablett vorbeitrug.
    »Da bist du ja, Bristow! Ich hab überall nach dir gesucht!«
    Es war Tommy. Er legte die Hände auf die Balkonbrüstung und lächelte. »Tolle Party, was?« sagte er und sah auf seine Gäste hinab. Ein Kellner eilte herbei und fragte, was er bringen dürfe. »Scotch. Einen doppelten. Und das gleiche für meinen jungen Freund hier.«
    O Gott, dachte Joe. Er war jetzt schon halb betrunken. Er müßte einen Teil davon

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