Die Teerose
unter.
Aber das wirst du, dachte Fiona. Das mußt du. Ein Kind ist unterwegs. Dein Kind. Sie sah ihm zu, wie er hemmungslos heulte, und in dem Mahlstrom von Gefühlen aus Sorge, Wut und Angst tauchte ein neues Gefühl auf: Mitleid. Sie wollte es abwehren, wollte ihn hassen, denn wenn sie ihn haßte, konnte sie ihn verlassen. Aber das war nicht möglich. Instinktiv streckte sich ihre Hand aus und streichelte seinen Rücken. Er spürte es, drehte sich zu ihr um und zog sie an sich. Er schlang die Arme um sie und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Sie erschauerte bis auf den Grund ihrer Seele. »Weißt du, was du getan hast?« flüsterte sie. »Weißt du, was du weggeworfen hast? Unsere Träume. Unser Leben, das vergangene und das zukünftige. Alles, was wir waren und was wir uns erhofft haben. Die Liebe, die wir füreinander hatten …«
»Nein, Fee«, sagte Joe und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Sag das nicht. Bitte sag nicht, daß du mich nicht mehr liebst. Ich hab kein Recht dazu, ich weiß, aber bitte, hab mich immer noch lieb.«
Fiona sah den Mann an, den sie ihr ganzes Leben lang geliebt hatte, den Mann, den sie mehr brauchte als irgend etwas oder irgend jemand anderen. »Ja, ich liebe dich, Joe«, sagte sie. »Ich liebe dich, und du wirst Millie Peterson heiraten.«
Die Sonne ging unter über London, der Himmel wurde dunkel, die Luft kühlte sich ab, und Joe und Fiona blieben am Flußufer stehen und hielten sich fest, als wollten sie sich nie mehr loslassen. Fiona wußte, daß es das letzte Mal war. Wenn sie vom Fluß weggingen, wäre alles vorbei. Sie wußte, daß sie ihn nie mehr spüren, nie mehr seinen Geruch einatmen würde. Nie mehr würde sie mit ihm auf den Old Stairs sitzen, nie mehr hören, wie er ihren Namen rief, nie mehr seine blitzenden blauen Augen sehen, die sich beim Lachen zusammenkniffen. Sie würden nie ihren Laden bekommen, kein gemeinsames Heim, keine Kinder. Ihre Träume waren für immer verflogen, zerstört. Mit einem Schlag hatte sie ihren besten Freund verloren, ihre Hoffnung, ihre Liebe, ihr ganzes Leben.
Sie ertrug es nicht. Es tat zu weh. Ohne Joe war ihr Leben nicht mehr lebenswert, bedeutete ihr nichts mehr. Mit plötzlicher Klarheit wußte sie, was sie tun würde. Sie würde ihm sagen, daß er fortgehen sollte, und dann würde sie in die Themse gehen und sich von ihren Fluten verschlucken lassen. Es wäre ein schneller Tod. Es war schon fast Dezember, und das Wasser war kalt. Sie wollte diesen furchtbaren, rasenden Schmerz beenden.
»Wann ist deine … Hochzeit?« fragte sie und konnte nicht fassen, daß diese Worte aus ihrem Mund kamen.
»Heute in einer Woche.«
So bald. Mein Gott, so bald, dachte sie. »Du mußt mir was geben«, sagte sie.
»Alles, was du willst.«
»Ich brauch das Geld. Meinen Anteil von den Ersparnissen.«
»Du kannst alles haben. Ich bring’s dir vorbei.«
»Gib’s meiner Ma, wenn ich nicht … da bin.« Sie sah ihn ein letztes Mal an, dann richtete sich ihr Blick auf den Fluß. »Geh jetzt. Bitte.«
»Schick mich nicht weg, Fiona. Laß mich dich festhalten, solang ich’s noch kann«, flehte er.
»Geh bitte, Joe. Ich flehe dich an.«
Schluchzend stand er da und sah sie an. Dann war er fort, und sie war allein. Selbstmord ist eine Sünde, flüsterte eine Stimme in ihrem Innern, aber sie beachtete sie nicht. Sie dachte an ihren Großvater, den Vater ihres Vaters, der nach dem Tod seiner Frau von einer Klippe gesprungen war. Die Leute sagten, daß die Zeit alle Wunden heile. Vielleicht hatten diese Leute nie jemanden geliebt. Das Leid ihres Großvaters hätte die Zeit nicht geheilt, davon war sie überzeugt. Und bei ihr wäre es genauso.
Sie ging zum Wasserrand und warf einen letzten Blick auf den Fluß, den sie so liebte, auf die Kais, die Kähne und die Sterne, die am Londoner Nachthimmel aufgingen. Als sie bis zu den Fesseln im Wasser stand, hörte sie jemand von der Treppe rufen.
»Da bist du ja, du dummes Ding!«
Sie fuhr herum. Es war Charlie. Wütend stand er oben auf den Stufen. »Wo zum Teufel bist du gewesen?« rief er und kam herunter. »Seit sieben Uhr such ich dich, und jetzt ist es schon neun. Hast du den Verstand verloren? Ma ist außer sich vor Sorge. Wir dachten schon, du seist ermordet worden. Der Ripper hätt dich gekriegt. Deinetwegen hab ich meinen Kampf im Taj Mahal verpaßt. Quinn wird mich umbringen …« Er blieb stehen, sah ihr bleiches Gesicht, ihre verschwollenen Augen und das zerzauste Haar. »Was
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