Die Teufelsbibel
den grässlichen Traumbildern. Selbst in Zeiten höchster Not war es ihm stets gelungen, etwas zu essen oder zu trinken aufzutreiben, ohne die Münze versetzen zu müssen. Irgendwann hatte er festgestellt, dass sie in Wahrheit ein flaches Medaillon war, das mit einem versteckten Federmechanismus zu öffnen war. Das Medaillon hütete ein fingernagelgroßes Stück groben Stoffs, ein zerfleddertes Stück einer grau gewordenen Feder und eine Prise Asche, die alles andere eingestäubt hatte. Die Symbolik war ihm rätselhaft geblieben. Jetzt hielt er das Medaillon in der Hand, fragte sich, ob nach all den Jahren nun der Zeitpunkt gekommen war, es zu Geld zu machen, als die Tür plötzlich aus den Angeln sprang, auf den Boden prallte und eine Ansammlung bewaffneter Männer in den Raum explodierte.
Einer von ihnen erwischte Andrej, als dieser schon halb durch das Fenster in der hinteren Kammer geklettert war. Die Instinkte der Ratte, die das Dasein auf der Gasse in Andrej geschärft hatte und die von ein paar Monaten regelmäßigen Lebens keineswegs stumpf geworden waren, hatten ihn herumwirbeln und die Flucht antreten lassen, noch während die Soldaten blinzelten und sich an das schlechte Licht zu gewöhnen versuchten. Der Soldat zerrte Andrej zurück in die Kammer, packte seinen Haarschopf, zog ihn daran in die Höhe und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht, der Andrej halb betäubte; dann schleppte er seine Beute zurück in den vorderen Raum.
Andrej fühlte sich auf die Beine gestellt und versuchte, vonallein stehen zu bleiben. Vor seinem schwankenden Blickfeld stand ein kleiner, weißhaariger Mann, von dessen teurer Kleidung das Innere des Hauses aufgehellt zu werden schien.
»Er blutet im Gesicht«, stellte der Mann fest.
»Hat mich angegriffen, Euer Ehren«, sagte der Soldat.
»Da haben Sie aber Glück gehabt, dass Sie noch mit dem Leben davongekommen sind, was, Hauptmann?«
»Euer Ehren!« Andrej konnte fühlen, wie sich der Soldat, der ihn am Arm hielt, versteifte. Er wusste, dass er derjenige sein würde, an dem der Soldat seinen Zorn über die sarkastische Bemerkung des alten Mannes ausließ, und hoffte, der Alte würde ihn nicht allein mit den Soldaten zurücklassen. Sein Kieferknochen, zuvor taub gewesen, begann zu pochen und sandte Lanzenstöße in seinen Schädel. Er blinzelte benommen und tastete mit der Zunge in seinem Mund, ob ein Zahn locker geworden war.
Der alte Mann spazierte einmal um Andrej herum.
»Ein hübscher Bursche«, sagte er. »Wenn man die Erfolge bedenkt, die Meister Scoto bei den Weibern hatte, sollte man meinen, er hier wäre der Meister selbst. Aber er ist es nicht, stimmt’s?«
Andrej schniefte; ratlos, welche Antwort von ihm erwartet wurde und mit der jahrelangen Erfahrung gesegnet, dass man von seinesgleichen in den meisten Fällen eher gar keine wollte, sagte er nichts.
»Wo ist der Meister?«, fragte der alte Mann.
Andrej öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Ich habe mich vermutlich unpräzise ausgedrückt«, sagte der alte Mann. »Also: wo ist das schleimige Reptil, das der Kasse des Kaiserhofes zwölftausend Grän Gold und tausend Lot Silber schuldet und das wir auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers an den Eiern in einem Käfig im Hirschgraben aufhängen werden – nicht wegen des Goldes, sondern wegen der exotischen Nuss, die es aus dem Raritätenkabinett SeinerMajestät gestohlen hat?« Der alte Mann verzog das Gesicht, als wenn er Zahnschmerzen hätte, musterte Andrej aber unverwandt. Andrej starrte zurück. Er öffnete den Mund erneut; diesmal wollte er etwas sagen, konnte aber nicht. In seinem Schädel keuchte jemand: Mist!
»Ah ja«, sagte der alte Mann. »Nun, weg mit ihm. Vier Mann durchsuchen das Haus. Jeden Winkel, jeden Stein. Wenn es danach noch steht, werde ich denken, dass ihr nicht ordentlich gesucht habt.«
»Euer Ehren, das Haus gehört dem Kaufmann Vojtech,« begann der Hauptmann.
»Glauben Sie, dass es mehr wert ist als zwölftausend Grän Gold, tausend Lot Silber und eine gottverdammte Nuss aus der Neuen Welt?«
»Nein, Euer Ehren!«
»Also, dann lassen Sie Ihre Männer suchen. Der hier kommt mit mir.«
Andrej, der dem Hradschin in all den Jahren niemals näher gekommen war als in den letzten Monaten, wo er unterhalb der Burgmauer in einem Loch von Haus gelebt hatte, hätte über die Pracht der Bauten gestaunt, die sich nach dem zweiten Burghof vor ihm öffneten, wenn er nicht vor Schreck und Panik halb blind gewesen wäre.
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