Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
Erkältung.
»Hatten wir nicht eine Verabredung getroffen, Frau Spiegel?«
»Ja«, kam es kleinlaut zurück.
»Sie wollten doch heute Morgen schon abreisen? Wann geht denn die Fähre?«
»Deswegen rufe ich ja an. Ich kann nicht.«
»Hören Sie!« Viktor schaute genervt nach oben zur Decke und entdeckte dabei einige Spinnweben in den Ecken des Zimmers.
»Wir haben das doch alles ausführlich besprochen. Sie haben derzeit eine ruhige Phase und können in diesem Zustand völlig problemlos nach Berlin zurückfahren. Sie treffen sich dann sofort, wenn Sie angekommen sind, mit Professor van Druisen, den ich …«
»Ich kann nicht«, unterbrach ihn Anna, ohne dabei laut zu werden. Und noch bevor sie es aussprach, wusste Viktor, was sie damit meinte.
»Die Fähre. Sie fährt nicht mehr wegen des Unwetters. Ich sitze hier auf der Insel fest.«
8. Kapitel
E r hatte es gewusst, noch bevor er den Hörer auflegte. Ihre Stimme hatte es ihm verraten. Sie klang so, als habe sie das Unwetter persönlich arrangiert, nur um ihn weiter von der Arbeit und seiner damit verbundenen Vergangenheitsbewältigung abzuhalten. Und sie erweckte den Eindruck, als ob sie ihm etwas zu erzählen hätte. Etwas so Wichtiges, dass sie bereit gewesen war, dafür die Strapazen und Kosten einer Fahrt von Berlin hierher auf sich zu nehmen. Und das sie ihm gestern aus irgendeinem Grund noch nicht anvertraut hatte. Viktor wusste nicht, was es war, aber er wusste, dass sie die Insel nicht eher verlassen würde, bevor sie ihre Geschichte losgeworden war. Und deshalb musste sie kommen. Auch aus diesem Grund hatte er sich vorsichtshalber geduscht und umgezogen. Im Bad hatte er ein Aspirin in Wasser aufgelöst und mit drei Schlucken auf nüchternen Magen getrunken. Er spürte einen Druck auf den Augen. Ein untrügliches Zeichen für nahenden Kopfschmerz. Vielleicht sogar Fieber. Normalerweise nahm Viktor bei diesen Warnsignalen seines Körpers lieber gleich zwei Katadolon. Doch die würden ihn schläfrig machen, und irgendetwas in ihm gab ihm den Rat, seinem ungebetenen Gast besser mit klarem Kopf gegenüberzutreten. Daher fühlte er sich zwar grippig, aber wenigstens nicht müde, als Sindbad am frühen Nachmittag mit einem warnenden Knurren Annas Ankunft an der Vordertür ankündigte.
»Ich bin spazieren gegangen und sah Licht bei Ihnen im Wohnzimmer«, lächelte sie ihn an, nachdem er ihr geöffnet hatte.
Viktor runzelte die Stirn. Spazieren gegangen? Selbst Hundebesitzer nahmen bei diesem Wetter nur ungern einen längeren Fußweg auf sich. Es goss zwar noch nicht in Strömen, aber der leichte Nieselregen hatte es bereits in sich. Und Anna war in ihrem Kostüm aus feinstem Wollstoff und den hochhakigen Schuhen ganz und gar nicht wetterfest angezogen. Vom Ort bis zum Strandhaus waren es mindestens fünfzehn Minuten, die man auf einem schlecht befestigten Gehweg zurücklegen musste, der bereits voller Pfützen war. Trotzdem hatte sie keinen Dreck an ihren eleganten Sommerpumps. Auch ihre Haare waren trocken, obwohl sie weder Regenschirm noch Kopftuch bei sich trug.
»Komme ich ungelegen?«
Viktor merkte, dass er noch gar nichts gesagt, sondern sie nur entgeistert angestarrt hatte.
»Ja. Das heißt, ich …« Er stotterte. »Entschuldigen Sie bitte. Ich bin etwas durcheinander. Und ich habe mich wohl erkältet.«
Und was mir Halberstaedt über dich erzählt hat, öffnet dir auch nicht gerade bereitwillig meine Tür.
»Oh.« Das Lächeln war von Annas Gesicht verschwunden. »Das tut mir Leid.«
Ein Blitz über dem Meer erhellte hinter dem Haus für einen Moment die Umgebung. Kurz darauf folgte das obligatorische Donnergrollen. Das Unwetter kam näher. Viktor ärgerte sich. Jetzt konnte er den unliebsamen Gast nicht sofort zurückschicken. Er musste Anna aus Höflichkeit erdulden, zumindest so lange, bis die ersten Regenschauer vorüber waren.
»Nun, wenn Sie sich schon mal die Mühe gemacht haben, hier heraus zu mir zu kommen, dann können wir ja gemeinsam Tee trinken«, schlug er widerwillig vor. Was Anna, ohne zu zögern, annahm. Ihr Lächeln war zurückgekehrt, und Viktor glaubte sogar, einen leichten Ausdruck von Triumph in ihrer Miene zu erkennen. Etwa wie bei einem kleinen Kind, das seine Mutter nach andauernder Quengelei im Supermarkt dazu gebracht hat, Süßigkeiten zu kaufen.
Sie folgte ihm in das Kaminzimmer, wo beide wieder ihre Plätze vom Vortag einnahmen. Sie mit überschlagenen Beinen auf der Couch. Er mit dem Rücken zum Fenster
Weitere Kostenlose Bücher