Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
genommen. Viktor blickte durchs Fenster und konnte von seinem Schreibtisch aus kein einziges Schiff mehr auf den sich immer höher auftürmenden Wellen erkennen.
Er wendete sich wieder dem Bildschirm zu.
Hoffnung
Viktor ballte die Hände über der Tastatur zur Faust und streckte dann die Finger wieder aus, ohne die Buchstaben dabei zu berühren. Als er diese Frage zum ersten Mal las, hatte sie einen imaginären Damm in seinem Gehirn gesprengt, und der erste Gedanke, der langsam Gestalt annahm, war der an die letzten Tage seines Vaters. Gustav Larenz war im Alter von vierundsiebzig Jahren an Lymphdrüsenkrebs erkrankt und hatte die dauernden Schmerzen nur mit Hilfe permanenter Morphingabe ertragen können. Doch im späten Stadium der Krankheit vermochten selbst die starken Tabletten die Schmerzen nicht mehr vollständig auszuschalten. »Wie unter einer mit Nebel gefüllten Glocke …«, beschrieb der Vater seinem Sohn die dumpf hämmernde Migräne, deren Aggressionspotenzial alle zwei Stunden durch die Pillen auf ein gerade noch erträgliches Maß reduziert wurde.
Wie unter einer mit Nebel gefüllten Glocke. Genau darunter habe ich meine Hoffnung begraben. Es ist so, als ob die Symptome meines Vaters auch mich heimgesucht hätten. Wie bei einer ansteckenden Krankheit. Nur dass der Krebs nicht das Lymphdrüsensystem, sondern meinen Verstand befallen hat. Und die Metastasen wuchern durch mein Gemüt.
Viktor atmete tief durch und begann schließlich zu schreiben.
Ja, er hatte Hoffnung. Dass eines Tages seine Haushälterin ihm einen Besucher ankündigen würde, der in der Eingangshalle wartete und es ablehnte, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Er hoffte, der Mann, der seine Dienstmütze in beiden Händen hielt, würde ihm wortlos in die Augen sehen. Und dass er es dann endlich sicher wüsste. Lange bevor die endgültigsten aller Worte aus dem Munde des Beamten kämen: »Es tut mir Leid.«
Das war seine Hoffnung.
Isabell hingegen betete jeden Abend für das Gegenteil. Dessen war er sich sicher. Woher sie die Kraft dazu nahm, war ihm nicht klar. Aber tief in ihrem Innersten versteckt hatte sie eine Vision. Dass sie eines Tages wie gewohnt von einem Ausritt nach Hause käme und das umgekippte Fahrrad von Josy in der Auffahrt sehen würde. Und noch bevor sie es aufrichten konnte, um es zum Gartenhaus zu schieben, würde Josy lachend vom See her kommen. Außer Atem, Hand in Hand mit ihrem Vater. Gesund und überglücklich. »Was gibt es zu Mittag?«, würde Josy von weitem rufen, und alles wäre wie früher. Isabell würde sich nicht wundern. Sie würde Josy auch nicht fragen, wo sie die letzten Jahre verbracht hatte. Sie würde ihr über das länger gewordene rötlich blonde Haar streichen und es einfach akzeptieren. Dass sie wieder da war. Dass die Familie endlich wieder vereint war. So wie sie die Trennung akzeptiert hatte. Jahrelang. Das war ihre unausgesprochene Hoffnung.
So, ist Ihre Frage damit beantwortet?
Emotionslos nahm Viktor zur Kenntnis, dass er wieder einmal Selbstgespräche führte. Diesmal war Ida von Strachwitz seine imaginäre Zuhörerin. Sie war die verantwortliche Redakteurin bei der Bunten, der er schon übermorgen die ersten Antworten per E-Mail schicken sollte.
Viktors Laptop gab ein Geräusch von sich, das ihn an eine alte Kaffeemaschine erinnerte, wenn diese beim Aufbrühen den letzten Rest Wasser in den Filter spuckte. Er entschied sich, die letzten Zeilen wieder zu löschen. Irritiert stellte er dabei fest, dass es nichts zu löschen gab. Alles, was er in der vergangenen halben Stunde geschrieben hatte, war ein einziger Satz. Und selbst dieser schien mit der Frage nicht sehr viel zu tun zu haben:
»Zwischen Ahnen und Wissen liegen Leben und Tod.«
Viktor sollte nicht mehr dazu kommen, diese einzige Zeile zu ergänzen, da plötzlich das Telefon klingelte. Zum ersten Mal, seitdem er auf Parkum angekommen war. Unweigerlich erschreckte ihn der unerwartet laute Ton, der mit einem schrillen Widerhall die Stille des kleinen Hauses zerriss. Er ließ es viermal läuten, bevor er den schweren Hörer des alten Drehscheibentelefons abhob. Wie fast alles im Haus war auch das schwarze Ungetüm ein Erbstück von seinem Vater. Es stand auf einem kleinen Telefontisch neben dem Bücherregal.
»Störe ich Sie?«
Viktor stöhnte innerlich auf. Er hatte fast damit gerechnet, dass das passieren würde. Auf einmal fühlte er wieder das Schwindelgefühl von gestern zusammen mit den bekannten Anzeichen seiner
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