Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
vor seinem Schreibtisch.
»Bitte bedienen Sie sich.«
Er hob seine eigene Tasse an und deutete mit dem Kopf in Richtung Kaminsims, wo die Teekanne auf dem Stövchen stand.
»Später vielleicht. Danke.«
Viktors Hals schmerzte heftiger als zuvor, und er nahm einen großen Schluck. Der Assam-Tee schmeckte mit jeder Tasse bitterer.
»Geht es Ihnen gut?«
Wieder die gleiche Frage wie gestern. Viktor ärgerte sich, dass sie ihn augenscheinlich so durchschauen konnte. Er war hier der Arzt.
»Danke. Ich fühle mich bestens.«
»Und warum schauen Sie die ganze Zeit so grimmig drein, seitdem ich gekommen bin, Doktor? Sind Sie mir etwa böse? Bitte glauben Sie mir, dass ich heute Früh wirklich die Fähre zum Festland nehmen wollte. Doch leider ist ihr Betrieb bis auf weiteres eingestellt worden.«
»Hat man Ihnen schon gesagt, wann er voraussichtlich wieder aufgenommen wird?«
»Nein. Nur, dass es frühestens in zwei Tagen sein wird. Mit sehr viel Glück in vierundzwanzig Stunden.«
Und mit etwas Pech in einer Woche. So lange hatte Viktor schon einmal mit seinem Vater hier ausharren müssen.
»Vielleicht wollen wir die verbliebene Zeit ja doch für ein weiteres Therapiegespräch nutzen?«, fragte sie unverblümt und lächelte wieder ihr sanftes Lächeln.
Sie will etwas loswerden, dachte Viktor.
»Sie irren sich, wenn Sie denken, dass das gestern ein Therapiegespräch war. Es war nur eine Unterhaltung. Sie sind nicht meine Patientin. Daran ändert auch der Sturm dort draußen nichts.«
»Fein, dann lassen Sie uns doch einfach unsere Unterhaltung von gestern wieder aufnehmen. Sie hat mir gut getan.«
Sie will etwas loswerden. Und sie wird keine Ruhe geben, bevor sie es nicht gesagt hat.
Viktor erwiderte lange ihren Blick und nickte dann schließlich, als er merkte, dass sie den ihren nicht abwenden würde.
»Also, gut …«
… dann bringen wir das mal zu Ende, was wir gestern angefangen haben, ergänzte er in Gedanken, während Anna sich zufrieden auf der Couch zurücklehnte.
Und dann erzählte sie die schlimmste Geschichte, die Viktor je in seinem Leben zu hören bekommen sollte.
9. Kapitel
A n welchem Buch schreiben Sie zurzeit?«, fragte er sie als Erstes. Es war die Frage, mit der er heute Morgen aufgewacht war.
Welche Figuren werden als Nächstes in Ihren Albträumen lebendig?
»Ich schreibe nicht mehr. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich bin dazu übergegangen, nur noch über mich selbst zu schreiben. Meine Biografie – wenn man so will. Damit schlage ich drei Fliegen mit einer Klappe. Erstens: Ich kann meiner künstlerischen Neigung nachgehen. Zweitens: Ich verarbeite dabei meine Vergangenheit und drittens: Ich verhindere, dass Romanfiguren in mein Leben treten und mich verrückt machen.«
»Verstehe. Dann erzählen Sie mir bitte etwas von Ihrem letzten großen Zusammenbruch. Dem, der schließlich zu Ihrer Aufnahme in der Klinik führte.«
Anna atmete tief aus und faltete ihre Hände wie zu einem Gebet.
»Nun. Die letzte Romanfigur, die sich verselbständigte, war die Heldin aus einem modernen Märchen für Kinder.«
»Worum ging es?«
»Um ein kleines Mädchen. Charlotte. Sie war ein zierlicher blonder Engel, so wie man ihn aus der Werbung für Lebkuchen oder Schokolade kennt.«
»Nicht die schlimmste Figur, die man sich als imaginären Begleiter vorstellen kann.«
»Ja. Das stimmt. Charlotte war ein kleiner Schatz. Jeder, der sie sah, schloss sie sofort ins Herz. Sie lebte als einzige Königstochter in einem kleinen Schloss auf einer Insel.«
»Wovon handelte die Geschichte genau?«
»Von einer Suche. Eines Tages wurde Charlotte nämlich plötzlich krank. Sehr krank.«
Viktor wollte gerade einen weiteren Schluck Tee nehmen, setzte die Tasse aber wieder ab. Anna hatte jetzt seine volle Aufmerksamkeit.
»Sie litt an unerklärlichen Fieberanfällen, wurde immer schwächer und dünner. Alle Mediziner des Landes kamen zusammen und untersuchten sie, aber keiner konnte sagen, was ihr fehlte. Ihre Eltern verzweifelten Tag für Tag mehr. Und Tag für Tag verschlimmerte sich der Zustand der Kleinen.«
Viktor hielt unbewusst den Atem an und konzentrierte sich auf jedes folgende Wort.
»Eines Tages beschloss die kleine Charlotte dann, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und riss von zu Hause aus.«
Josy.
Viktor hatte versucht, diesen Gedanken zu verdrängen, aber es war ihm nicht gelungen.
»Wie bitte?« Anna sah ihn irritiert an. Viktor
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