Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
hatte gar nicht bemerkt, dass er offenbar etwas gesagt hatte, und fuhr sich nervös durch die Haare.
»Nichts. Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Fahren Sie bitte fort.«
»Also, wie gesagt, sie machte sich auf die Suche nach der Ursache ihrer Krankheit. Wenn man so will, ist diese Geschichte eine Parabel. Ein Kindermärchen von einem kranken Mädchen, das sich nicht aufgibt, sondern handelt, indem es auf eigene Faust in die Welt hinausgeht.«
Das kann nicht sein. Das ist unmöglich. Viktor war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er kannte dieses Gefühl. Zuerst hatte er es in der Praxis von Dr. Grohlke gespürt. Und danach an jedem einzelnen Tag seines Lebens. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er beschlossen hatte, die Suche nach seiner kleinen Tochter endgültig zu beenden.
»Geht es Ihnen wirklich gut, Dr. Larenz?«
»Wie? Oh …« Viktor sah auf die Finger seiner rechten Hand, die nervös auf der Mahagoniplatte des alten Schreibtisches trommelten.
»Entschuldigen Sie, ich habe wohl etwas zu viel Tee getrunken. Aber erzählen Sie mir mehr von Charlotte. Wie geht die Geschichte aus? Was ist passiert?«
Was ist mit Josy?
»Ich weiß es nicht.«
»Was? Sie wissen nicht, wie Ihr eigenes Buch endet?« Die Frage kam lauter, als Viktor es beabsichtigt hatte, doch Anna schien sich über den Gefühlsausbruch nicht zu wundern.
»Ich sagte doch, ich habe es nie fertig gestellt. Die Geschichte blieb ein Fragment. Gerade deshalb hat Charlotte mich doch nicht mehr losgelassen und in diesen Albtraum gestürzt.«
Albtraum?
»Wie meinen Sie das?«
»Wie ich schon sagte, Charlotte war die letzte Romanfigur, die in mein Leben trat. Was ich mit ihr erlebte, war so schrecklich, dass ich danach den Zusammenbruch hatte.«
»Noch mal. Was genau ist passiert?«
Viktor wusste, dass er sich falsch verhielt. Die Patientin war noch nicht so weit, um über das Trauma zu sprechen. Aber er musste es wissen. Als Anna nur starr nach unten schaute und keine Antwort gab, hakte er etwas vorsichtiger nach.
»Wann hatten Sie die erste Vision von Charlotte?«
»Das war vor etwa vier Jahren in Berlin. Im Winter.«
»Am 26. November«, ergänzte Viktor lautlos.
»Ich wollte gerade einkaufen gehen, als ich auf der Straße hinter mir diesen Krach hörte. Reifenquietschen, dann ein metallisches Scheppern, das Splittern von Glas, die üblichen Geräusche eines Auffahrunfalls. Ich dachte noch: ›Hoffentlich ist niemand zu Schaden gekommen‹, und drehte mich um. Da sah ich das Mädchen. Sie stand wie paralysiert mitten auf der Straße. Offenbar war sie schuld an dem Unfall.«
Viktor verkrampfte in seiner Sitzhaltung.
»Plötzlich, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, drehte sie den Kopf, sah zu mir herüber und lächelte mich an. Und da erkannte ich sie. Charlotte. Mein krankes Mädchen aus dem Roman. Sie rannte zu mir und nahm meine Hand.«
Ihre dünnen Ärmchen. So zerbrechlich.
»Jetzt war ich katatonisch, starr. Einerseits war mir klar, dass es sie nicht gab. Nicht geben konnte. Andererseits war sie so real. Ich konnte nicht anders. Ich musste sie akzeptieren. Also folgte ich ihr.«
»Wohin? Wo genau war das?«
»Was? Wieso ist das so wichtig?«
Anna blinzelte etwas verstört und schien auf einmal doch keine Lust mehr zu haben weiterzureden.
»Ist es nicht. Verzeihen Sie. Fahren Sie fort.«
Anna räusperte sich und stand auf.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Dr. Larenz, würde ich gerne eine Pause machen. Ich weiß, ich habe Sie die ganze Zeit zu dem Gespräch gedrängt. Doch jetzt merke ich, dass ich vielleicht doch noch nicht so weit bin. Diese Visionen waren wirklich sehr schrecklich für mich. Jetzt darüber zu reden, fällt mir schwerer, als ich dachte.«
»Natürlich«, sagte Viktor, obwohl in ihm alles nach weiteren Informationen schrie. Er stand ebenfalls auf.
»Ich werde Sie ab sofort nicht mehr belästigen. Vielleicht kann ich ja morgen schon nach Hause.«
Nein!
Viktor suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Er konnte es nicht zulassen, dass sie nicht mehr wiederkam, obwohl es genau das war, was er noch vor wenigen Minuten von ihr verlangt hatte.
»Nur noch eine Frage.« Viktor blieb unbeholfen in der Mitte des Zimmers stehen. »Wie hieß das Buch?«
»Es hatte noch keinen richtigen Titel. Nur einen Arbeitstitel: ›Neun.‹«
»Wieso ›Neun‹?«
»Weil Charlotte neun Jahre alt war, als sie fortlief.«
»Oh.«
Zu jung!
Erstaunt merkte Viktor, was die wenigen Worte von Anna bei ihm bewirkt
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