Die Tiefen deines Herzens
Schritt zurück, kletterte unter den Seilen hindurch und verließ den Ring. Die beiden begannen, sich zu umtänzeln. Marc war leichtfüßig wie eine Gazelle, hielt beide Fäuste zur Deckung vors Gesicht, während sein Gegner versuchte, den ersten Treffer zu landen. Marc tauchte blitzschnell seitlich unter dem Schlag hinweg und nutze den Angriff und die damit verbundene geöffnete Deckung seines Sparringpartners zum Kontern. Seine Rechte schoss vor und traf den Gegner mit voller Wucht am Kinn. Trotz des Kopfschutzes taumelte dieser ein paar Schritte zurück.
Ich schaute mit angehaltenem Atem zu Marc. Alles an ihm strahlte Entschlossenheit und Härte aus. Sein Körper war angespannt bis in die letzte Sehne.
Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, mich total lächerlich zu machen. Was drückte ich mich hier in der hintersten Ecke herum wie eine liebeskranke Stalkerin!?
Ich atmete tief durch und trat aus meinem Versteck hervor.
Jamie entdeckte mich und winkte mir flüchtig lächelnd zu, bevor er sich wieder dem Boxkampf zuwandte.
Bemüht lässig schlenderte ich zu ihm hinüber und betete insgeheim, dass meine butterweichen Knie nicht einfach wegknicken würden.
»Hi«, sagte ich leise, als ich direkt neben Jamie stand.
»Hi, Leni. Du kommst gerade richtig.« Seine Augen funkelten begeistert. »Marc ist in absoluter Bestform. Als ob es das Jahr Pause überhaupt nicht gegeben hätte.«
»Schön«, murmelte ich und versuchte ein Lächeln, das mir anscheinend zu einer Grimasse verunglückte. Jedenfalls runzelte Jamie skeptisch die Stirn.
»Alles okay bei dir?«
Ich beeilte mich zu nicken. Zu meiner Erleichterung gab er sich damit zufrieden und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen im Boxring.
Eine Weile verfolgten wir schweigend den Trainingskampf, bevor Jamie ihn für beendet erklärte und zu den beiden Boxern in den Ring stieg. Er befreite Marc von seinem Kopfschutz und den Boxhandschuhen, wobei er begeistert auf ihn einredete und ihm ein paarmal anerkennend auf die Schulter klopfte, was Marc mit undurchdringlicher Miene quittierte.
Als Jamie sich schließlich dem anderen Typen zuwandte, um auch ihm behilflich zu sein, sah Marc mich kurz an.
Von Freundlichkeit oder gar Freude im Blick keine Spur. Dennoch nickte ich ihm lächelnd zu und formte mit den Lippen ein tonloses Hi.
Ohne es zu erwidern, drehte er sich um und kletterte auf der anderen Seite unter den Seilen hindurch. Mit schnellen Schritten verließ er die Halle Richtung Umkleidekabine.
Ich wollte ihm nachlaufen. Ihn zur Rede stellen. Jetzt und hier. Aber meine Beine waren wie gelähmt. Wollten mir nicht gehorchen. Ich stand einfach da, starrte auf die geschlossene Tür, hinter der Marc gerade verschwunden war, und kam mir unglaublich blöd vor.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, auf direktem Weg zurück zur Pension zu gehen. Doch dann hatte ich es mir anders überlegt. Ich wollte noch einmal das Meer und den wunderschönen Zinnowitzer Strand sehen, bevor ich meine Klamotten zusammenpacken und den nächsten Zug zurück nach Berlin nehmen würde.
Dazu hatte ich mich beim Verlassen des Boxcamps entschieden und direkt Nägel mit Köpfen gemacht und Geena angerufen. Zum Glück fand ihre Ma es total okay, dass ich bis zur Rückkehr meiner Eltern bei ihnen wohnte. Ich blöde Nuss hatte nämlich nicht daran gedacht, meinen Hausschlüssel einzustecken.
Ich setzte mich in den Sand ganz nahe am Wasser, blickte auf das weite Meer hinaus und sog die salzige Luft ein.
Es war schön hier. So wunderschön. Und dennoch würde ich nie wieder hierher zurückkommen. Ich wollte die Ereignisse der letzten Tage einfach nur noch hinter mir lassen und das, was zwischen Marc und mir geschehen war, unwiderruflich aus meiner Erinnerung löschen.
Wie dumm und naiv ich gewesen war. Hatte ich tatsächlich geglaubt, Marc würde sich für sein mieses Verhalten entschuldigen?
Leni, Leni, sagte ich mir kopfschüttelnd, du hast wirklich null Plan. Vom Leben, von der Liebe und vor allen Dingen von männlichen Wesen.
Mit einem Seufzer erhob ich mich wieder. Langsam wurde es Zeit, wenn ich heute noch zurückwollte. Ich dachte an Clara. Bestimmt würde sie aus allen Wolken fallen, wenn ich sie so vor vollendete Tatsachen stellte. Hoffentlich machte sie kein großes Ding daraus und ließ mich ohne lange Diskussionen fahren. Obwohl, gestern hatte sie es mir ja schließlich selbst angeboten. Also blieb ihr gar nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Und außerdem, ich war
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