Die Tiefen deines Herzens
möchtest fort, und wollte dich nur nicht zwingen, weil …«
Ich hob die Hand und brachte sie damit zum Schweigen.
»Nein, das will ich nicht«, erklärte ich – und ganz genauso war es auch. Ich wollte nicht nach Hause. Nicht bevor ich die Sache mit Marc geklärt hatte. Ich wollte nicht mein Leben lang mit Hass an den Menschen zurückdenken, mit dem ich mein erstes Mal erlebt hatte. Das war mir in diesem Moment klar geworden.
Clara lächelte. »Dann ist ja alles gut, Leni.«
Ich nickte – obwohl natürlich nichts gut war.
»Jamie hat hinten auf der Wiese ein kleines Lagerfeuer gemacht. Wir wollen Stockbrot und Würstchen grillen. Magst du zu uns runterkommen?«
Ich zögerte. Bestimmt würde Marc auch da sein. War ich schon in der Lage, ihm gegenüberzutreten?
»Ich überleg’s mir, ja?«
Meine Tante nickte. Doch bevor sie das Zimmer verließ, sagte sie leise: »Ich hoffe, deine Niedergeschlagenheit hat nichts mit Marc zu tun.« Sie hatte es nicht als Frage formuliert, dennoch antwortete ich – wenn auch nicht wahrheitsgetreu.
»Nein, bestimmt nicht!«
»Gut.« Sie atmete hörbar erleichtert auf. »Ich hatte schon Angst, dass da doch mehr zwischen euch ist. ’tschuldige, ich sehe immer noch Gespenster.«
Ich runzelte die Stirn und setzte mich abrupt auf. »Was soll das heißen, du hattest Angst? Ich meine, nicht dass da irgendwas wäre«, beeilte ich mich, ihr zu versichern, »aber was wäre so schlimm daran?«
Clara zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Na ja, er nimmt es mit der Liebe nicht so ernst – flattert wie eine Hummel von einer Blume zur anderen. Ich glaube, zu einer echten Beziehung ist er einfach nicht fähig.« Damit zwinkerte sie mir verschwörerisch zu und schloss die Tür hinter sich.
Clara, Jamie und Marc saßen ums Lagerfeuer herum und unterhielten sich. Sammy nahm mich als Erster wahr und kam schwanzwedelnd auf mich zu. Nachdem ich ihm zärtlich den Hals gekrault hatte, machte er es sich wieder an Jamies ausgestreckten Beinen gemütlich.
»Leni«, lächelte Clara mich an, »schön, dass du dich noch zu uns setzt.«
Ich nickte und ließ mich zwischen meiner Tante und Jamie ins Gras sinken. Marc, der offensichtlich beschlossen hatte, mich zu ignorieren, hockte mir direkt gegenüber.
»Und?«, wandte sich Jamie an mich. »Was hast du heute den ganzen Tag so gemacht?«
»Etwas
Neues
ausprobiert«, antwortete ich und schaute dabei Marc an. Er hob die Augenbrauen, und wenn mich nicht alles täuschte, errötete er.
»Aha«, hakte Jamie nach. »Was denn?«
Marc bekam einen Hustenanfall.
»Was ist?«, fragte Clara. »Hast du dich verschluckt?«
»Nur eine Fliege«, krächzte er, winkte ab – und wurde noch röter.
»So ’n Hunger?«, scherzte Jamie.
Marc sagte nichts. Räusperte sich nur und Jamie wandte sich wieder an mich. »Also, Leni, raus damit, was hast du heute getan, was du noch nie zuvor getan hast?«
Ich ließ mir Zeit. Weidete mich an Marcs deutlichem Unbehagen.
Sagt sie es oder nicht? Bringt sie das? Nein, das wird sie nicht. Oder doch?
»Tja«, begann ich lächelnd, während mein Blick weiterhin fest auf Marc gerichtet war, »ich bin am Strand gewesen.«
Jamie sah mich ungläubig an. »Wie jetzt, du warst heute zum ersten Mal am Strand? Aber …«
Ich fiel ihm ins Wort. Schelmisch grinsend, mit einer plötzlichen Sicherheit, ja, einem geradezu mächtigen Gefühl, weil ich Marc deutlich ansah, wie sehr er auf glühenden Kohlen saß, wie schrecklich unangenehm ihm das alles war.
»Natürlich nicht, Jamie. Lass mich doch ausreden. Ich bin das erste Mal in meinem Leben am Strand
gejoggt.«
»Ach so«, sagte Jamie und klang fast ein wenig enttäuscht.
»Puh«, machte ich und wischte mir gespielt den Schweiß von der Stirn. »Das war ganz schön anstrengend. Aber ich glaube …« Ich stockte und wandte mich dann direkt an Marc. »Ich habe mich gar nicht mal so schlecht angestellt, oder, Marc?«
Ich wusste selbst nicht, woher ich diesen Mut nahm. Aber alles in mir spendete tosenden Applaus, klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und feuerte mich an:
Richtig so, zahl’s ihm heim!
Marcs dunkle Augen drohten mich zu durchbohren. Instinktiv wich ich ein Stück zurück. Mein Herz raste. Marc kochte vor Wut, das war ihm deutlich anzusehen. Vielleicht war ich doch zu weit gegangen?
Aber da entspannten sich seine Gesichtszüge wieder ein bisschen.
»Ja, Leni«, erwiderte er und lächelte spöttisch. »Du hast dich zwar nicht gerade besonders geschickt dabei
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