Die Tiefen deines Herzens
Marc ein verschlossener, beinahe aggressiver Marc wurde.
»Lass uns weitergehen. Je später wir auf dem Markt sind, desto voller wird es sein. Gerade samstags bekommt man um die Mittagszeit kaum noch ein Bein auf die Erde.«
»Okay«, sagte ich nur und ließ mich von ihm mitziehen. Meine freudige Erregung, mit Marc inmitten dieser schillernden Metropole zu sein, war wie fortgeweht. Als ob der Wind, der über die Themse blies, alle Heiterkeit mit sich genommen hätte.
Bis wir die London Bridge erreicht hatten, sprachen wir nur noch wenig. Einmal blieben wir stehen und schauten einem schrill gekleideten älteren Pärchen nach, das uns wild gestikulierend entgegenkam. Der Mann trug einen dunklen Smoking mit passendem Zylinder, die Frau ein gerade geschnittenes Fransenkleid und ein Stirnband mit rosa Kunstfeder. Ihr wasserstoffblondes Haar klebte in Wellen fest an ihrem Kopf.
»Die sind wohl von der Nacht übrig geblieben«, meinte Marc schmunzelnd.
»Es ist fast elf Uhr«, wunderte ich mich.
Er zuckte mit den Schultern. » Welcome to London! Da kannst du verrückte Leute sehen.«
Ich erwiderte sein Grinsen und plötzlich war alles wieder gut. Eine Windböe, ein Wort, ein Lächeln … und Marc war wieder der Marc, in den ich mich verliebt hatte, der, für den ich alles riskieren würde, nur um mit ihm zusammen zu sein.
Wir überquerten die London Bridge von der Nordseite rüber in den Stadtteil Southwark. Dort war auch der Borough Market, auf dem es laut Marc das beste türkische Baklava Londons geben sollte.
»Sag mal, und hierher wolltest du nur mal eben laufen, um für mich dieses Baklava zu holen?«, fragte ich, als wir am Ende der Brücke angekommen waren und eine seitlich gelegene Steintreppe hinunterstiegen. »Wir sind nun fast eine Stunde unterwegs.«
Marc nickte. »Klar doch. Für dich ist mir eben kein Weg zu weit«, erklärte er.
»Marc, jetzt mal ehrlich …«
»Ich wollte mir das Auto von Andrew leihen.«
»Andrew?«
Er stöhnte auf. »Leni, das ist echt typisch deutsch. Immer musst du alles ganz genau wissen und hinterfragen. Ich wollte dich überraschen und es ist mir nicht gelungen. Wie und warum ich das hinbekommen wollte, ist doch völlig egal. Kannst du nicht einfach mal irgendetwas dem Zufall überlassen?«
»Hallo? Ist das dein Ernst? Ich bin mit dir nach London gegangen. Ohne Plan und ohne zu wissen, was mich erwartet. Wenn das nicht bedeutet, dass ich etwas dem Zufall überlassen kann, dann weiß ich es auch nicht.«
»Okay, hören wir auf zu streiten«, lenkte er ein. »Außerdem sind wir gleich da.«
Inzwischen hatten wir das Ende der Treppe erreicht, und ich hatte das Gefühl, auf einmal in eine andere Welt einzutauchen. Obwohl der Markt noch einige Straßen entfernt war, herrschte schon hier ein wuseliges Treiben. Mit Einkaufstüten bepackte Menschen kamen uns entgegen. Essend, lachend, redend, ausgelassen – eine ganz besondere Atmosphäre umgab uns hier unten. Ich beschloss, mir weitere Fragen zu verkneifen und einfach den Tag zu genießen.
Wir kamen an einem wunderschönen kleinen Fachwerkhaus vorbei, das von zahlreichen Touristen umlagert war. Am liebsten hätte ich mich ebenfalls für ein Erinnerungsfoto vor das Haus gestellt, aber irgendwie kam mir das dann doch nicht passend vor. Ich war ja keine gewöhnliche Londoner Touristin – ich war eine Siebzehnjährige, die mit ihrem Freund durchgebrannt war. Durchgebrannt, wie sich das anhörte. So mutig, wild … frei – kein bisschen nach mir.
Plötzlich musste ich an Geena denken und wie sie mir immer meine angebliche Scheu vor Risiken vorgehalten hatte. Wenn sie mich jetzt sehen könnte, sie würde Augen wie Golfbälle bekommen. Der Gedanke amüsierte mich und ich lachte leise auf.
Marc blickte mich erstaunt an. »Worüber lachst du?«
Ich blieb stehen und schlang übermütig die Arme um seinen Hals. »Über uns. Über das hier. Dass ich mich getraut habe, mit dir abzuhauen, und auch ein wenig, weil es sich gerade so verdammt gut anfühlt.«
Er küsste mich stürmisch und meine Knie wurden weich.
Jemand stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»What a kiss!«, rief eine männliche Stimme begeistert.
Wir lösten uns voneinander und liefen Hand in Hand weiter. Lachend, frei, glücklich – ja, zum Zerplatzen glücklich. Vernünftig, das konnten wir irgendwann mal wieder sein …
Auch auf dem Markt wimmelte es nur so von Menschen. Die vielen kleinen Stände waren dicht umlagert. Der Duft von frischem Brot und Oliven
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