Die Tiefen deines Herzens
Felix.
»Die Fahrkarten, bitte.«
Ich schreckte auf, wie aus einem tiefen Schlaf gerissen. Zunächst verstand ich nicht, schaute nur reichlich verwirrt in ein dunkles Augenpaar, das irgendwie ausdruckslos auf mich gerichtet war.
»Die Fahrkarten, bitte«, wiederholte der Mann vor mir geduldig, und langsam wurde mir wieder bewusst, wo ich mich befand.
Hektisch sprang ich von meinem Sitz auf. »Entschuldigung, ähm, Moment, bitte. Ich muss an meinen Koffer.«
Der Schaffner nickte und trat einen Schritt zurück, damit ich an die Gepäckablage herankam.
Wenige Minuten später saß ich wieder auf meinem Platz und sah zum Fenster hinaus. Keine halbe Stunde mehr, dann würde ich meiner Tante gegenüberstehen.
N akshatranam aham shashi – Unter den Sternen bin ich der Mond!
(Lord Krishna)
3
Das Haus, in dem meine Tante wohnte, hatte sie vor einem Jahr einer älteren alleinstehenden Dame abgekauft. Es hatte ein Reetdach voller Moos, das längst davon hätte befreit werden müssen. Doch meine Tante wollte alles so belassen, damit der urige Charakter erhalten blieb.
Hinter dem Haus lag ein kleiner Innenhof, der von einer mit wildem Efeu berankten halbhohen Mauer umgeben war.
An der rechten Seite des Hofs, mit einer Tür nach vorn und einer zur angrenzenden Wiese, befand sich ein Fachwerkhaus. Ursprünglich hatte es als Viehstall gedient, aber meine Tante und ihr Freund Jamie hatten es inzwischen zu einem Gästehaus ausgebaut.
Zu dem Fachwerkgebäude gehörte ein winziger Kräutergarten, um den sich die Gäste kümmern sollten und aus dem sie sich im Gegenzug nach Herzenslust bedienen konnten. Meine Tante hielt es für eine hervorragende Geschäftsidee, ein Ferienhaus mit eigenem Kräutergarten anzubieten. Ich hatte keine Ahnung, ob die Gäste genauso dachten. Dazu war ich noch nicht lange genug auf der Insel. – Um genau zu sein, seit knapp sechs Stunden.
Nun saß ich also in der hintersten Ecke des Hofs in einem der drei blau-weiß gestreiften Strandkörbe und dachte wieder an Felix.
Ausgerechnet jetzt, dass meine Mutter unbedingt jetzt, wo zwischen mir und Felix alles anders geworden war, auf diese komplett blöde Idee kommen musste. Drei Wochen! Wie sollte ich bloß drei Wochen in dieser Ungewissheit leben?
Nach den Küssen am See hatten wir noch lange eng umschlungen auf dem Steg gelegen. Der Wind war durch die Gipfel der Bäume gefahren. Ein gleichmäßiges Rauschen, beruhigend und beängstigend zugleich. Genauso wie unsere Umarmung, das neue Gefühl zwischen uns.
Wir hatten nur noch wenig gesprochen, nachdem ich Felix mit stockender Stimme gebeichtet hatte, dass ich am nächsten Tag für drei Wochen nach Usedom fahren würde. Zu meiner Tante. Von der ich nichts wusste, außer dass sie dort eine kleine Pension hatte und es meiner Mutter enorm wichtig war, dass ich einen Teil meiner Ferien dort verbrachte.
Ich hatte es Felix längst sagen wollen. Aber unsere Gespräche in den letzten Tagen hatten sich ausschließlich um seine Fußballkarriere gedreht. Das anstehende Spiel, zu dem der Talentscout sich angekündigt hatte. Felix’ ganz große Chance. Dagegen war mir mein Problem unwichtig vorgekommen. Außerdem hatte ich ja nicht ahnen können, dass sich plötzlich alles zwischen uns ändern würde.
Oder hatte ich es insgeheim längst gewusst? Gespürt, dass sich etwas anders angefühlt hatte, und ihm deshalb erst am Tag vor meiner Abreise davon erzählt?
In meinem Kopf schwirrte es. Ein tiefer Seufzer entfuhr mir.
»Alles okay?«, erkundigte sich meine Tante und ich sah überrascht auf. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass sie in den Hof getreten war.
Ich nickte. »Klar doch.«
Sie schenkte mir einen skeptischen Blick aus grün gesprenkelten Augen.
Meine Augen, schoss es mir durch den Kopf. Sie waren das Erste an ihr gewesen, das mir vorhin, als sie mir am Bahnhof in Heringsdorf gegenübergestanden hatte, aufgefallen war. Die gleichen Augen, die gleichen blond gelockten Haare, die nie so saßen, wie ich es mir wünschte, und die ich deshalb meist zum Zopf zusammengebunden trug. Selbst die vielen winzigen Sommersprossen im Gesicht und auf den Armen, über die ich alles andere als glücklich war, hatte sie mit mir gemein.
Meine Tante Clara sah mir weitaus ähnlicher als meine eigene Mutter, die zwar auch hellblondes Haar hatte, aber sich weder mit störrischen Locken noch mit unzähligen Sommersprossen herumplagen musste. Außerdem war meine Mutter ein gutes Stück größer und kräftiger als Clara
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