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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Fuchs
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hinterher geschrien. Ich drehe mich um und der Kameramann kuckt mich an, als ob er diese Aufnahme nicht löschen wird, in der ich über die Straße renne, in Inas Kleid und Gesines Schuhen. Ich werde nicht überfahren, nein. Mir passiert nichts, nie. Peter hatte zwei Monate ein Fahrrad und wir waren einen Monat verheiratet, da wurde er angefahren. Mir passiert also manchmal schon etwas, aber nur weil anderen etwas passiert. Ich lebe noch. Im Verlaufe des Tages wird der Teer weich werden.

    So, ich schließe das Fahrrad ab. Morgen ist Sonnabend, soso. Aber heute muss ich nochmal als Erstes Jürgen treffen, der mir ein schöner Tag wünscht, du mich auch. Ich steuer meine Zelle im Irrenhaus an. Frau Kobow weist mich darauf hin, dass schönes Wetter ist und dass es geregnet hat. Das Wochenende steht vor der Tür, wolle mer es reilasse? Und die Eissorten werden immer verrückter: Rotwein, Schaschlik, Karotten, sagt Frau Kobow.
    «Hauptsache gesund!», sage ich. Das fällt mir bei Karotten ein. Frau Kobow fragt, ob es meinen Kindern gut geht. Das fällt ihr bei Gesund ein.
    Ich nicke. Ich glaub schon, dass es den Kindern gut geht. Kinder, Kinder, wie die Zeit vergeht. Ich bin schon drei Minuten da. Endlos lange drei Minuten. Den Kindern geht es gut, was ich ihnen wünsche, ist ein besserer Vater, einer, der glücklich ist, jedem wünsche ich das eigentlich. Wenn ich König von Deutschland wäre, würde ich das anordnen, und ich würde die Demokratie einführen. Und dann würde ich den Politiker wählen, jener welcher alles Geld gnadenlos in den Nachwuchs steckt, vorn rin und hinten rin. Wir können uns Menschen wie mich nicht mehr leisten. Eine ungünstige Kindheit kommt ungleich teuerer später. Die ganzen Therapien und Herzinfarkte. Ein Herz kann man nicht repariern. Udo Lindenberg ist so peinlich. Der soll mal bei seinen Leisten bleiben. Die Leisten sind das, wo der Schwanz dazwischen hängt.
    Frau Kobow fragt mich, ob ich vergessen hätte, dass ich wieder bei A-H bin.
    Da atme ich auf. «Ah!» und «Ha!» Das sind gute Töne, und dazwischen ist kein J., Frau Jannsen.

    Ich warte, ich warte, nicht sehr lange. Ich habe mich hingesetzt und Inas Kleid ist hochgerutscht und jetzt sind Inas Beine zu sehen. Ein dicker Mann zählt die Leberflecke auf den Oberschenkeln. Er verzählt sich immer wieder und braucht lange. Ich warte gerne, im Moment auf den Januar und darauf, dass der Mann alle Leberflecke gezählt hat. Es sind 25, jedes Jahr kommt einer dazu. Neben mir sitzt eine Frau, die sehr klein ist und ein Radio an die Backe hält. Das Radio ist auch sehr klein. Ich höre kaum die Musik. Die Musik ist auch sehr klein. Die Frau singt mit. Sie hat silbern glitzernde Haarspangen in ihren kurzen Haaren. Ihre Haare sind grau. Eigentlich besteht zwischen grau und silber kaum ein Unterschied, nur dass eins glitzert, ja, und eins nicht, nein. Die Frau kuckt mich schräg an und fragt: «Sprechen Sie Russisch?», aber sie will keine Antwort.
    Ich frage sie: «Sind Sie Witwe?», und will auch keine Antwort. Ich trage aus Trauer nichts drunter. Als Peter starb, war alles blutig im Frühling. Er hat noch lang genug gelebt, um mich anzurufen, dass ich zu ihm kommen soll. Er lag neben der Straße und hatte Schmerzen. Der Sanitäter sagte mir, dass Peter eigentlich unter Schock stehen müsste und keine Schmerzen haben sollte. Er sollte keine Schmerzen haben, hatte er aber. Er hatte unglaubliche Schmerzen. Er hat sich gequält und ich hatte seinen Arm im Schoß. Der Arm war ab, aber hat sich noch bewegt, hat meinen Bauch gestreichelt, in dem unser Kind ist. Ein Sanitäter versuchte, Peters Bein einzurenken, und ein anderer sagte, das könne auch gemacht werden, wenn der Mann tot ist. Damit es nicht das Letzte ist, was Peter hört, bevor er geht, sagte ich ihm, dass ich allein klarkomme.

    Ich habe Tanja seit zwei Monaten nicht gesehen, und jetzt sitzt sie im Flur. Ich gehe an ihr vorbei. Sie hat nichts unter dem Kleid. Sehr lange kann ich natürlich nicht hinstarren, aber so aufgerieben wie das letzte Mal, als ich sie sah, sieht sie nicht aus. Sie war eine offene Wunde und sie war durchsichtig. Ich habe sie durchschaut, so schauts. Weil mein Herz bei ihr stehen bleibt, gehe ich weiter und komme herzlos in meinem alten Zimmer an. Da sitzt Weinreich und sagt: «Welcome back!»
    Jaja, lass uns ’ne Party feiern. Ich brauche nicht denken, dass ich nicht an Tanja denken will, entweder denke ich an sie oder an gar nichts. Ich bin so was wie ein

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