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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Fuchs
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nicht aus den Taschen. Gesine und ich hatten noch eine Stunde Zeit, ehe wir nach oben mussten. Nachdem wir acht oder zehn Engel in den Hof, in den Schnee, gemacht hatten, hingen wir in meinem Hausflur herum, weil uns kalt war, saukalt. Die Jeans taute langsam, und wir hinterließen Pfützen, da wo wir saßen, wie hingepullert, lustig. Unsere Hintern waren tief gefroren, wir rutschten die Treppenstufen runter. Das holperte, aber tat nicht weh, weil wir nichts fühlten, lustig. Natürlich hatte ich am nächsten Tag dann Schmerzen beim Hinsetzen und am übernächsten Tag blaue Flecken. Gesine war ganz verrückt danach, die Treppe runterzurodeln. Heute denke ich, dass Gesine sich da das erste Mal befriedigt hat. Sie wollte immer wieder und gar nicht aufhören, nochmal, nochmal. Ich ahne, dass sie es etwas härter mag, nur etwas. Sie deutet das manchmal an. Sie sagt, sie sei ein böses Mädchen und macht dabei eine Geste, die nach Holzauge-sei-wachsam aussieht. Sie öffnet den Mund halb und zieht mit dem Zeigefinger der rechten Hand den Tränensack ihres rechten Auges dreimal nach unten. Ich kann das nicht ab, überhaupt nicht. Gesine macht das seit mindestens einem Jahr, seit sie mit Tim zusammen ist. Tim hat keinen guten Einfluss auf sie, nicht wirklich. Sie sind einander ihr Anhängsel, und wenn sie eingeladen werden, dann als: «Gesine und Tim», wenn man mit Gesine befreundet ist oder als: «Tim und Gesine», wenn man mit Tim befreundet ist. Holger sagt immer «Tim und Gesine». Das klingt wie «er und der Rest». Ich sage dann «Gesine und Tim», weil Tim der Rest ist. Tim ist uninteressant. Das ist gut für meine und Gesines Freundschaft, gut. Ich finde es nicht leicht, wenn Freundinnen tolle Männer haben, schwer. Tim gibt bestimmt Gesines Wünschen im Bett nach, anstatt mit ihr über ihren gewalttätigen Vater zu sprechen. Was ich über Gesine wirklich weiß ist, dass sie sich sehr verändert hat, seit damals, wie ausgewechselt. Im Radio kommt «War is over, if you want it», von John Lennon. Der ist auch am Todeshügel gestorben, wurde beim Rodeln erschossen. Mein Nachbar hört wieder Abba und dann Johnny Cash. Ich kann mich an die letzten weißen Weihnachten sehr gut erinnern, es waren die letzten mit meinen Eltern, ja.
    Ich rufe bei Peter an. Ich weiß, dass er nicht da ist, trotzdem, ich habe seine Nummer herausbekommen, endlich. Er sagt, dass er nicht da ist, aber wiederkommt. Ich lege auf. Ja, mach das Peter, komm wieder. Ich freue mich auf ihn. Ich muss ihn fragen, ob er als Kind auch immer den Wunschzettel gemalt hat, als er noch nicht schreiben konnte. Warum Jungs immer ein rotes Feuerwehrauto haben wollen? Weil es laut ist oder weil es rot ist? Wann er angefangen hat zu onanieren? Wie er dazu sagt? Ich freue mich auf ihn.
    Auf heute Abend freue ich mich nicht, nein. Inas Eltern kucken mich immer traurig an, wie eins von dreißig Chinchillas im Tierheim, das Chinchilla mit dem zerfransten Schwanz, das nie einer haben will. Weil ich es schwer habe, habe ich gar nicht. Weil ich keine Eltern habe, habe ich. Inas Eltern werden mir Geld schenken, viel. Ich lege mir mein schönes blaues Kleid raus, die Strumpfhose und eine silberne Kette. Bevor ich das anziehe, muss ich mich waschen. Das war Weihnachten bei uns üblich. Ich war mit Katrin in der Badewanne. Katrin hat ganz früh Brüste bekommen. Und ich konnte nichts machen, damit meine schneller wachsen oder damit anfangen. Alles andere konnte ich nachmachen, alles, dafür brauchte ich keine Brüste. Ina hat keine Schwester, die hat es gut.
    Ich dusche, und der Nachbar hört jetzt Elvis. Manche Lieder zweimal. Ich stelle mir vor, wie er den Baum schmückt oder hässlicher macht, indem er Kugeln in allen Farben dranhängt. Ich rasiere mir die Beine, weil sich frisch rasierte Beine in Feinstrumpfhose toll anfühlen, glatt. Dann trockne ich mich ab, friere und lege mich deshalb ins Bett. Mein erstes Weihnachten ohne Peter. Davor waren alle ohne ihn, aber das wusste ich nicht. Ich presse meinen Kitzler zwischen Daumen und Zeigefinger, drücke, bis es sehr schön ist. Dazu Elvis auf Deutsch. Ich suche mein Mikrophon raus und nehme mich dabei auf, wie ich komme. Ich bin mir nicht sicher, ob ich extra laut stöhne und mir selber etwas vorspiele, um mich anzumachen. Dann höre ich mir die Aufnahme mit meinem Stöhnen an, über Kopfhörer. Elvis kann ich auch hören, lustig. Ich mache es mir nochmal. Ich halte mit der linken Hand das Mikrophon. Ich denke daran, wie

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