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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Fuchs
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Peter aussah, als er über mir war. Ich kann es wie ein Foto betrachten. Er schließt nie die Augen. Er starrt und erinnert mich daran, wie Kinder aussehen, wenn sie etwas malen, ganz bei der Sache. Ich komme ganz weich, wie Schnee. Ich will mir die Aufnahme anhören, aber ich habe vergessen, das Mikrophon wieder anzumachen. Ich ärger mich, als hätte ich es mir umsonst gemacht. Ich habe es mir jahrelang umsonst gemacht. Keiner hat mich stöhnen hören. Ich finde mich doof, kann es aber nicht ändern, dass ich mich ärger, trotzdem. Dann schlafe ich ein, bis Ina mich anruft und fragt, wo ich bleibe.
    «Na, nicht hier!», sage ich und verspreche, mich zu beeilen. Ich ziehe das Kleid an, die Strumpfhose, lege die Kette um und suche meinen Mantel. Er ist in der Truhe. Im Spiegel sehe ich aus wie ein behütetes Kind, ein süßes Mädchen, das ein Lied singt, um ein Geschenk zu bekommen. Ich packe den Kalender für Ina und Schokoladenweihnachtsmänner in eine Tüte und gehe los. Es ist schon dunkel und auf den Straßen ist kaum wer, still. Alles nur, weil Peter nicht in der Stadt ist, weg. Ich will ihn fragen, wie es ihm geht? Ob ihm seine Kinder auf den Wecker fallen? Ob er einen Reisewecker hat? Ich will seine Kinder nicht kennen lernen, aber sie werden wohl zur Hochzeit kommen. Ob er gerne Basilikum riecht?
    In der Bahn sitzen wenige Menschen, die meisten werden schon bei ihren Familien sein, oder allein zu Haus. Ich bilde es mir sicher ein, aber die wenigen Menschen, die unterwegs sind, sind Moslems. Zumindest macht das Sinn, ja. Mir hat eine Türkin mal erzählt, dass in ihrer Familie auch Weihnachten gefeiert wird, einfach weil es Geschenke gibt. In meiner Kindheit wurde Weihnachten auch nur gefeiert, weil man sich etwas basteln konnte, nicht um zu feiern, dass der Herrgott oder was weiß ich, ich weiß das gar nicht. Keiner hat mir das richtig erklärt und jetzt kann ich nicht mehr fragen, weil ich das wissen müsste.
    Ich habe nichts zu lesen mitgenommen, weil ich einen Tagtraum an der Stelle weiterträumen will, an der ich gestern von Frank unterbrochen wurde, der mit mir essen gehen wollte. Da sag ich nicht nein, nein. Aber ich konnte nicht weiter daran denken, wie Peter und ich an die Ostsee fahren, in einem Bett schlafen, mit kratzigem Bettbezug und miteinander. Im Zimmer ist ein weißer Schrank, zwei Stühle und ein Tisch, auf dem ein Tablett steht und darauf zwei Gläser, verkehrt herum. Weil es draußen windig ist, gibt mir Peter seine Mütze und sein schwarzes Haar wird vom Wind hin und her verändert. Er kneift die Augen zusammen. Ich kann jede Mimik von ihm im Kopf erzeugen, auch die, die ich noch nicht gesehen habe. Wie er verliebt lächelt, schön. Dann sieht er aus wie ich, schön. Ich sehe mich in der Scheibe der U-Bahn. Nächstes Weihnachten fährst du nicht weg, Mann. Ich will Heiligabend mit dir fernsehen und du hast einen Wollpullover an.
    Vom Bahnhof aus ist es nicht weit zu Inas Eltern. In der Wohnung ist es warm und es riecht dick. Inas Eltern sind dick, darum. Es riecht nach Kartoffelsalat. Bei uns gab es immer Nudelsalat. Der jüngere Bruder von Ina kommt auf mich zugeschossen und freut sich, drückt sich an meinen Bauch. Ich habe kein Geschenk für ihn, aber er hat eins für mich. Er gibt es mir, kaum habe ich die Schuhe ausgezogen. «Oh, danke, Enrico!», sage ich, und er wringt seinen Körper verlegen wie ein Mädchen. Damit ist die Bescherung eröffnet und jeder geht in ein Zimmer und taucht mit einem Arm voll bunt eingewickelter Pakete wieder auf. Ina holt ihre Geschenke aus der Tasche im Flur, ich auch. Ina strahlt mich an, ich sie auch. Alle packen gemeinsam aus und plappern darüber, wie sie darauf gekommen sind, wie schwer das zu finden war. Zu dem Kalender muss ich nichts sagen. Der ist für nächstes Jahr. Der war nicht schwer zu finden, und ich bin darauf gekommen, weil ich auf nichts anderes gekommen bin. Ina sagt, dass sie sowieso genug Hosen hat und es okay ist, dass ich ihr keine genäht habe. Für die Eltern habe ich noch eine Flasche Rum. Enrico streichelt meinem Schokoladenweihnachtsmann übers Gesicht und küsst ihn. Ina bekommt von ihren Eltern zwei Bücher, die sie für die Uni braucht, eine Nudelmaschine, die sie haben wollte, und ein Nachthemd. Alles von der Wunschliste. Alle strahlen, Sterne. Ich strahle auch, Stern. 100 Euro und wie jedes Jahr eine Entschuldigung von Inas Mutter. «Wir wissen doch nicht, was du dir wünschst …» Sie möchten mir Eltern schenken,

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